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die wahrheitIm Jahr des Hasen: 100 Jahre soziale Unruhen

Vorige Woche Dienstag bekam ich plötzlich einen Heidenschreck. Der Grund: Ich hatte Spiegel Online angeklickt. Und hier konnte ich ganz oben auf der Seite lesen ...

... dass es im gesamten China "brodelt": "Soziale Unruhen" lautete die Dachzeile, und die Schlagzeile darunter: "Proteststurm lässt Chinas Mächtige zittern". Ich zitterte sofort mit, um mich selbst, meine bald anstehende Rückkehr nach Peking und um meine chinesische Verwandtschaft selbstverständlich.

Dabei hatte "Spon" mich ja gewarnt, und zwar immer und immer wieder. "Die Gefahr sozialer Unruhen wächst", meldete man am 11. Juni, und zwar wegen der um 5,5 Prozent gestiegenen Inflation in China. Dasselbe hatte man am 11. Mai geschrieben ("Die Gefahr sozialer Unruhen wächst"), am 27. April ("Dem Land drohen soziale Unruhen") sowie am 15. desselben Monats ("Dem Land droht soziale Unruhe"). Auch im Jahr zuvor hatte man mich nicht im Unklaren gelassen. "Um soziale Unruhen zu verhindern", hieß es am 14. Juni 2010, "müssen sie [die Regierenden] die gefährlich wachsende Kluft zwischen Arm und Reich lindern." Und da natürlich "eine Kluft lindern" gar nicht geht, würden Unruhen unausweichlich sein.

Noch früher aber, am 4. Mai 2010, war das chinesische Internet der Grund für die wachsende Gefahr: "Wo sich so viele Menschen zusammentun, dort ist ein Keimbett für soziale Unruhe." Am 5. April 2009 lags am sich ab-schwächenden Wirtschaftswachstum: "Es drohen soziale Unruhen." So ziehts sich durchs halbe Jahr 2009, während am 11. Dezember 2008 zur Abwechslung mal die fehlenden Menschenrechte Schuld trugen: "In der Kommunistischen Partei ist die Nervosität groß - sie fürchtet wachsende soziale Unruhen." Und weiter gehts, das ganze Jahrzehnt hinab (Liste gegen 5 Euro in Briefmarken), über den 29. Juni 2007 ("Peking befürchtet soziale Unruhen") bis beispielsweise zum 15. März 2002: "Chinas Führung … fürchtet soziale Unruhen, weil sich die Landbevölkerung gegenüber den Städtern benachteiligt fühlt."

Spätestens an diesem Punkt erkannte ich, dass "Spon" bzw. der Spiegel China bereits seit Jahrzehnten jedes Jahr aufs Neue die aufregendsten sozialen Unruhen versprochen hatten, diese aber allenfalls auf lokaler Ebene aufgetreten waren. Und auch der groß aufgemachte "Proteststurm" von voriger Woche flaute sehr schnell ab. Schon Stunden später war die Meldung von der "Spon"-Startseite verschwunden, und am nächsten Tag war in den restlichen deutschen Medien nichts weiter über Unruhen in China zu vernehmen.

Das beruhigte mich fürs Erste. Inzwischen aber mache ich mir neue Sorgen. Denn wenn immer nur das Gegenteil von dem stimmt, was im Spiegel steht und prophezeit wird, andererseits dort nie etwas über drohende Unruhen in Deutschland geschrieben wird: Muss dann die Lage hierzulande inzwischen nicht ganz schön brenzlich sein? Vielleicht sollte ich meinen Deutschlandaufenthalt doch früher abbrechen, um mich in Chinas Hauptstadt in Sicherheit zu bringen. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein.

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6 Kommentare

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  • H
    HU-Nu

    Schön, Herr Schmidt, daß Sie diesmal selbst darauf hingewiesen haben: Erzreaktionäre staatstragende Zeitschriften wie der Spiegel lenken gerne mit China von der hiesig grassierenden Korruption ab. Weil dat hier in Dtl. ist langsam nicht mehr erträglich. Der Geldbedarf des Staates und der Konzerne wächst ins Unbezahlbare, und während in China eine Umbruchzeit stattfand (Die haben ihr Land in die Moderne geführt, bei all den Widrigkeiten, die so`n Raubtierkapitalismus halt mit sich bringt, aber das ist systemimmanent.) werden hierzulande drängende Probleme nicht angepackt. Vor allem der Beamtenstaat wird unbezahlbar. Das geht so ins Aschgraue daß ich hier keine detaillierten Belehrungen abgeben werde, schließlich leben wir im Informationszeitalter, da kann sich jeder selbst schlau machen. Die unbeweglichen Betonköppe, die ham wer hierzulande, und von der medial so hochtrabend gepriesenen Demokratie ist kaum mehr was übrig. Dafür hofiert die Politik das Großkapital viel zu freigiebig. Also, Spiegel et al, Schnauze halten und mal den eigenen Saustall aufräumen! Weil den Chinaquatsch, den glaubt euch doch nicht mal`n AlgII-Bezieher mehr.

  • XZ
    Xie Zeren

    @ Shangahiist: kleine korrektur

    Seit zwei Jahrzehnten, ich habe noch Artikelsammlungen aus den Prae-Internetzeiten, die dieselbe Klaviatur spielen, in ALLEN wichtigen deutschen Medien. Vorher waren es nur Meldungen über Fliegenplagen oder Hundeesser, was die bundesdeutsche Medienlandschaft bewegte, und dann auf einmal "klick", den Rest kennen Sie.

    Ich freue mich über Christian Y. Schmidt als den großen Antipoden und vielleicht ist es mir wirklich igendwann mal wieder was wert - jetzt kauf ich mir aber erstmal das neue Buch mit den Kolumnen von ihm. Vorher war Georg Blume, der die Fahne der objetiven Berichterstattung (oftmals wirkt sie eher sinophil, ob der einseitigen Negativ-Berichterstattung), hoch hielt. Ein neuer Stern könnte Felix Lee sein. Aber Sie, Sie genießen das Leben in 上海 jenseits von Maidanglao, Starbucks und Nanjingdonglu hoffentlich.

    Okay, danke auch taz, für diese Kolumne, die man in weiten Teilen auch mit seinen chinesischen Freunden lesen kann ohne auf Empörung oder eisiges Schweigen zu stoßen.

  • MW
    martin wehmer

    sehr lustig,,,,,,,,,,,,,,,gut pointiert...

    aber mal einen kleinen vergleich von spon mit dem zdf läßt ähnliches finden.

  • W
    WuscHelkopp

    Es ist nicht nur brenzlig, es lodert bereits.

  • T
    Thomas

    Perfekt, vielen Dank!! Dass gleiche ging mir da auch durch den Kopf.

    Tip: Einfach weniger Spiegel Online (oder am besten alle Zeitungen) lesen und sich an den schönen Dingen des Lebens erfreuen! Aber andererseits machen Sie bitte weiter!!

  • S
    Shanghaiist

    Ich lebe und arbeite seit 12 Jahren in Shanghai und kann C.Y.Schmidts Artikel nur bestaetigen. Seit mindestens einem Jahrzehnt wird immer wieder das Gleiche oberflaechliche, Schlagwortartige Zeug ueber China in den deutschen Medien wiederholt.

    Sicherlich gibt es enorme soziale Probleme, die Situation der z.B. Landbevoelkerung und der Wanderarbeiter kann man nicht wegreden, und Schmidt und ich als wohlhabende Auslaender in der Grossstadt haben da natuerlich gut reden.

    Trotzdem ist die Situation in China nicht im gerinsten zu vergleichen mit Syrien oder Jemen, das wird sicherlich so manche in Deutschland und Europa enttaeuschen, die sich auf den grossen Buergerkrieg freuen, damit endlich mal die Menschenrechte durchgesetzt werden.