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die wahrheitAlles Märchen, oder was?

Es war einmal ein Land, das veranstaltete eine Fußballweltmeisterschaft. Die bot zwar insgesamt eher schlechten Sport...

...so dass man sie nach dem letzten Schlusspfiff getrost hätte vergessen können. Allein die Mannschaft der gastgebenden Nation hatte besser gespielt als erwartet und damit ihre Fans patriotisch verhext. Eine gute Fee hätte erscheinen sollen, um diesen Bann zu lösen, doch es kam ein böser Zauberer, der stattdessen einen Dokumentarfilm zusammenbraute, den er "Deutschland, ein Sommermärchen" nannte. Das war 2006, und seither lastet ein Fluch auf dem Land.

Schon wer im taz-Archiv stöbert, kriegt stolze 183 "Sommermärchen" erzählt, und wer bei Google sucht, findet sage und schreibe "1.880.000 Ergebnisse". Nicht nur kehrte das Märchen-Virus pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft 2008 zurück, als Bild am Sonntag mithilfe Hunderter Fanvideos ein weiteres "Sommermärchen" ausbaldowerte. Sondern die märchenhafte Krankheit trat auch bei der Fußball-WM 2010 auf, als nach dem Auftaktsieg der Schweiz über den späteren Turniersieger Spanien ein "Sommermärchen in der Alpenfestung" (Stern) beschrien wurde - aus dem die Älpler feste in die Wirklichkeit zurückkatapultiert wurden, als die Schweiz trotzdem in der Vorrunde ausschied.

Naturgemäß unbeeindruckt von der Wirklichkeit geben sich Sportpropagandisten, Journalisten und Reklamefritzen. Der Bayerische Landes-Sportverband preist seine "Sportcamps" als ganzwöchige "Sommermärchen" an; "sommermärchenhafte Nächte" bietet lastminute.de feil, "ein Sommermärchen in den Kitzbüheler Alpen" und ein "Sommermärchen" im "Alpennationalpark Berchtesgaden" gehören wie der Reisekatalog "Deutschland - ein Sommermärchen" der Ameropa zum Repertoire der Märchenstunden im Tourismusgewerbe. Entsprechend infiziert sind die Urlauber: Als ein Mountainbiker im Sommer 2010 im Harz verunglückt und man ihn erst nach Tagen findet, wird seine Rettung bei seinen Freunden daheim prompt zum "Sommermärchen". Dito erleben zwei Burschen, die im selben Jahr Südtirol durchwandern, ihre Reise selbstverständlich als "Sommermärchen" und müssen das selbstredend der Welt lang und noch viel breiter mitteilen (www.outdoormemme.de), denn Märchen hängt mit mären zusammen.

Bei Journalismus und Reklame ist die Sache klar, weil das Märchen auch den Nebensinn "Schwindel" und "Lüge" hat. Dass auch Hinz und Kunz den Märchenonkel machen, hat eine andere, ebenso banale Ursache: Sie wollen aus der öden Wirklichkeit in eine schöne Traumwelt fliehen. Für solche Träume gab es früher zum Beispiel den märchenhaften Orient, aber der ist mittlerweile entzaubert. Die "Sommermärchen" und - auch die sind seit der Handballweltmeisterschaft 2007 en gros zu haben - "Wintermärchen" aber sind es ebenfalls, sind gewöhnlich und trivial geworden.

Entsprechend erfolgreich sind sie; allen voran das erste, Sönke Wortmanns national tönendes "Sommermärchen". Der Titel spielt auf Heinrich Heines satirische Versepen "Atta Troll. Ein Sommernachtstraum" und "Deutschland. Ein Wintermärchen" an. Da letzteres "Opus nicht bloß radikal revoluzionär, sondern auch antinazional ist, so habe ich die ganze Presse natürlich gegen mich", konnte Heine sich rühmen. Sein Opus appellierte an den Geist, aber den hat eben nicht jeder. Wortmann schürt Emotionen. Die haben auch Dummköpfe, und deshalb spricht sein "Sommermärchen" Millionen an.

Leider auch die Frauen, insbesondere die Fußballfrauen. "Werkeln am Sommermärchen", titelt Spiegel Online eine Vorschau auf die Frauen-WM. "Ich glaube, die Frauen werden ihre eigenes Sommermärchen schreiben", sagt Deutschlands Spitzenschiedsrichterin Bibiana Steinhaus wie bestellt. "Wir hoffen natürlich auf ein zweites kleines Sommermärchen", unkt auch Marc-Oliver Huhnholz vom Deutschen Brauer-Bund. Selbst die Augsburger Puppenkiste dreht am Rad beziehungsweise Ball und geht mit dem Stück "Steffi - ein Sommermärchen" auf Tournee, in dessen Mittelpunkt ein "junges, aufgewecktes und wahnsinnig fußballbegeistertes Mädchen" steht.

Dieser Wahnsinn befällt sogar die Duden-Sprachberatung, die in ihrer jüngsten Newsletter folgenden Beispielsatz zur Kommaregel schreibt: "Weder hatten beim Sommermärchen 2006 unschöne Aktionen die fried- und freudvolle Atmosphäre gestört noch ist eine solche Störung für das kommende Sommermärchen zu erwarten noch würde ein Komma vor den beiden noch in diesem Satz stören." Sondern das Einzige, was an diesem Satz stört, ist, dass er eine Mär verbreitet, denn nach der Halbfinalniederlage Deutschlands gegen Italien gab es sehr wohl Störungen der fried- und freudvollen Atmosphäre.

Doch wo Märchen erzählt werden, sind Ehrlichkeit, Faktentreue und Wirklichkeitssinn nicht vonnöten. Kein Wunder also, dass schon jetzt das nächste aufgetischt wird: Die Winterolympiade 2018 wird nicht mit der Gier nach nationaler Größe und fetten Geschäften, sondern als traumhaftes "Wintermärchen" beworben. Wahrlich, diese Märchen für unbedarfte Erwachsene nehmen kein Ende, und wenn wir gestorben sind, leben sie noch immer fort.

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