die usa wählen – die welt wundert sich: Der Freiheitsstatue unter die Arme greifen
Indien bietet der Supermacht USA Entwicklungshilfe in Sachen Demokratie
Die Freiheitsstatue bückt sich und versucht stöhnend, eine kleine Wahlschachtel hochzuheben. Ein ausgemergeltes Männchen, eine haushohe Urne auf den Schultern, erkundigt sich lächelnd, ob die Dame Hilfe braucht. Auch in Indien spitzen die Karikaturisten ihre Bleistifte und holen der Welt berühmteste Polit-Ikone aus ihrem Repertoire, um sie in einer noch nie gesehenen Pose zu zeichnen. Die Kolumnisten können mit ihrer Schadenfreude noch weniger zurückhalten, wenn sie das gleiche Thema immer neu variieren: Können wir der Supermacht vielleicht ein bisschen Entwicklungshilfe offerieren?
Indien führt mindestens alle fünf Jahre allgemeine Parlamentswahlen durch, die in Größe und Komplexität die US-Wahlen glatt in den Schatten stellen. Eine halbe Milliarde Menschen ist dabei aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. Diese Wähler können nicht mit ihren Limousinen beim Rathaus vorfahren, um zwischen ein paar Runden im Swimmingpool und der täglichen Wallfahrt zum Supermarkt noch rasch ihre Stimmkarte zu lochen.
Ein Großteil der InderInnen haben einen Fußmarsch hinter sich, wenn sie sich vor einer Dorfschule in die Warteschlange einreihen. Und hunderttausende von Polizisten sowie paramilitärische Verbände sind aufgeboten, die Wahlurnen zu schützen und sie am Abend, mit dem Gewehr im Anschlag, in die nächste Stadt zum Zählen zu bringen.
Im Gegensatz zu den USA sind in Indien die Durchführung und Kontrolle der Stimmabgabe nicht den Gemeinden und Bezirken überlassen. Hier wird alles von einer zentralen Wahlkommission organisiert und überwacht. Der „Chief Election Commissioner“ wird drei Monate vor der Wahl zur mächtigsten Person des Landes. Niemand – weder Staatspräsident noch oberster Richter – können ihm reinreden. Er kann Truppen mobilisieren und tausende von Beamten als Beobachter in ferne Distrikte versetzen. Politiker kommen unter Hausarrest, wenn sie die strengen Wahlvorschriften verletzen. Selbst der Premier wird zurückgepfiffen und muss dem Diktat der Kommission folgen.
Der amtierende Wahlkommissar M.S. Gill war daher in den letzten Tagen ein gesuchter Interviewpartner. Und er hielt mit seiner Meinung nicht zurück. Die unterschiedlichen Wahlabgabeverfahren in verschiedenen US-Bundesstaaten, die vielfach antiquierten Zählmethoden und die mangelnden einheitlichen Standards sind, meint Gill, eines Staates unwürdig, der sich als demokratischer Fackelträger und als Mekka der Hochtechnologie versteht.
Auch Gill ist bereit, den USA Nachhilfeunterricht zu geben, sollten sie sich dazu aufraffen, ihr Prozedere zu entstauben. Allerdings verschweigt Gill und mit ihm das Gros der Kommentare, dass in Indien tausende von Wahlurnen neu ausgezählt werden müssten, wenn es darum ginge, jeder Stimme zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Unregelmäßigkeiten geschehen weniger beim Zählen der Stimmen, wo Parteivertreter den Zählern auf die Finger schauen. Doch schon bevor die Urnen auf den Tischen ausgeleert werden, haben viele von ihnen recht abenteuerliche Karrieren hinter sich – gestohlen, der Siegellack gebrochen, von fremder Hand geöffnet und mit Wahlzetteln eines Kandidaten voll gestopft oder einfach verschwunden, bevor sie Tage nach der Wahl irgendwo wieder auftauchen. BERNARD IMHASLY
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