die stimme der kritik: Betr.: Sommer
Das Leben ist schön – Lang lebe Rumänien!
Im Kreuzberger Sommerloch sind ab Mittag alle Fenster geschlossen, die Vorhänge zu, heldenhaft kämpft ein Ventilator und schafft es, unermüdlich immer um sich selber kreisend, die Temperatur auf 33° zu drücken. Jede Stunde geht man duschen, und manchmal ruft einen am Rande des Sommerlochs ein Umfrager an, der wissen will, wie viel man verdient, was man an Steuern zahlt, ob man private Altersvorsorge gut findet oder meint, dass der Euro weniger stabil ist als die D-Mark oder andersrum, und wie viel man wohl im hohen Alter an Geld zur Verfügung hat. Prima! Es ist immer witzig, seine Meinung zu sagen: Private Altersvorsorge ist völliger Blödsinn und wird selbstverständlich nicht gemacht, dass der Euro nicht so stabil ist, ist völlig okay, und aufs Sozialhilfeniveau wird man schon kommen. Dann lacht man zusammen, und der Anrufer fragt, ob er demnächst noch mal anrufen darf: Natürlich gerne!
Im Radio redet jemand über „Eurozinszauderer“. Im Tagesspiegel geht’s um „Online-Broker und Lifestyle-Anleger“ und dass junge deutsche Kapitalisten im „internationalen Vergleich ziemlich alt“ aussehen würden. So halten in den USA unter den 12- bis 17-Jährigen rund 11 Prozent eigene Aktien. In Deutschland sind es gerade mal 1,7 Prozent. Bedenklich!
Dass die Unsrigen allerdings jetzt rausgeflogen sind? – Ein unerwartet schönes Gefühl! Ein zivilisatorischer Fortschritt! Deutschland adé! Hallo Europa! Die letzte große nationale Identifikations- und De-Identifikationsmaschine ist zerbrochen wie die SU und der Nimbus, von dem die Unsrigen in den 28 Jahren eines mehr oder weniger stetigen Niedergangs zehrten. Matthäus verabschiedete sich wie Kohl; Kahn beendete seine Laufbahn wie Kanther. Endlich sind wir wieder ein normales Fußballland. Irgendwie – nicht besser, aber auch nicht schlechter als andere.
„Lothar bedankt!“ stand auf den Plakaten, die holländische Fans hochhielten. Du bist Lothar, ich bin Hagi! Früher war ich Erwin Kremers. Nach den langen Jahren (ab 1973) einer gegen den FC Schalke 04 gerichteten DFB-Politik hat ein Ex-Schalker (Linke) ganz selbstlos die vorangegangenen Demütigungen gerächt. Lang lebe Rumänien! Netzer hurra! Der Fußball ist nun wieder unser Fußballgott!
DETLEF KUHLBRODT
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