die stimme der kritik: Betr.: Deutsche Traditionssportarten
Weltmeisterschaft im Abhören
„Telekommunikationsdatenschutzverordnung“ (TDSV) klingt prima nach Sicherheit und Ordnung und also hat der Bundesrat am Freitag eine solche beschlossen. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich die telekommunizierenden Deutschen nun sicherer fühlen dürfen. Im Gegenteil: Nicht der Schutz privater Daten wird mit dem neuen Gesetz verbessert, sondern der staatliche Zugriff darauf. Statt bisher nur achtzig Tage müssen die Telekommunikationsanbieter nach der neuen TDSV die Verbindungsdaten sämtlicher Teilnehmer nunmehr sechs Monate lang speichern.
Dass die Datenschutzbeauftragten als Hüter der Privatsphäre gegen diese „Datenvorratshaltung“ ebenso protestierten wie der Wirtschaftsausschuss, hielt das Plenum des Bundesrats nicht von der einstimmigen Zustimmung ab. Künftig sollen sämtliche Telefon-, Fax- oder E-Mail-Kontakte ein halbes Jahr dokumentiert werden, um den Sicherheitsbehörden im Bedarfsfalle für Ermittlungen zur Verfügung zu stehen. Und dieser Bedarf steigt ständig: Deutschland, so der grüne Abgeordnete Christian Ströbele, „ist weiterhin Weltmeister im Abhören“. Selbst wenn dieser Medaillenrang vermutlich doch eher vom US-Geheimdienst NSA gehalten wird – auch unter Rot-Grün pflegt die Bundesrepublik mit der TDSV eine deutsche Traditionssportart weiter, mit der Vereine wie Gestapo und Stasi einst Weltruhm erlangten. Im Horchen, Gucken und Schnüffeln lässt sich der Teutone offenbar so schnell nichts vormachen, auch ist es mit dem Kontrollfetischismus schon zweimal ziemlich nach hinten losgegangen ist.
Und was sagt die von der TDSV unter pauschalen Kriminalitätsverdacht gestellte Bevölkerung dazu? Erstaunlicherweise so gut wie nichts – sie guckt stattdessen „Big Brother“, und die Medienexperten brabbeln über die Ethik von Klokameras, das neue Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit und die nationale Frage, warum wohl Marion trotz Tittenschau aus dem Container herausgewählt wurde. Wen interessiert noch reale Videoüberwachung, wo es doch Reality-TV gibt; was ist der Schutz der Privatheit und Intimität gegen den Run von Kandidaten, ihren letzten Rest davon in der Glotze zu prostituieren?
Orwells Großer Bruder und seine kleinen Freunde haben guten Grund, sich ins Fäustchen zu lachen: Seitdem die totale Überwachung als Entertainment simuliert wird, lässt sie sich offenbar spielend und widerspruchslos in die Realität überführen.
MATHIAS BRÖCKERS
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