die stimme der kritik: Betr.: Redaktionsinterna
Das große U
Dar Journalist ächzt unter Rationalisierungsdruck, besonders wenn er in permanente Kampagnen zur Rettung seines eigenen Mediums verwickelt ist. Es gilt, die Wissenschaft in den Dienst der Tickerbewältigung zu stellen, die Übersicht zu wahren angesichts der Nachrichten, die stündlich von neuem Unheil künden. So hat etwa den Auslandsexperten die Formel geholfen, wonach die Zahl der jeweiligen Toten, multipliziert mit dem Faktor Hautfarbe und dividiert durch die Kilometerentfernung vom Sitz der Redaktion, die Zeilenzahl für die Nachricht angibt.
Solche Hilfsmittel versagen indes, wenn Kollegen, überwältigt vom Sturzbach der bad news, in die Krise geraten, wenn Ideale im Tagesgetriebe klein gemahlen werden, wenn sich frühere Lichtgestalten verdunkeln, wenn Bewegungen voll Schwung und Tatkraft in den Zeitläuften versanden. Wird anhand dieser Symptome nicht die zutreffende Diagnose gestellt, werden keine therapeutischen Schritte eingeleitet, ist die Berufskrankheit Nr. 1, Zynica lethargica, unvermeidlich. Erfreulicherweise besitzen wir mit dem von Kalvero Oberg entwickelten „großen U“ wenigstens ein zuverlässiges Diagnoseinstrument.
Die „große U-Kurve“, darzustellen innerhalb eines Koordinatensystems, eignet sich erstens zur exemplarischen Analyse journalistischer Wessi-Schwierigkeiten im Verhältnis zu den Ossis. Am Anfang des U steht die Euphorie angesichts der Revolution, gefolgt von der Ernüchterung. Daran schließen sich die Konflikteskalation an sowie die Feier der eigenen Zustände im Verhältnis zu denen „drüben“. Ist dieses Tal dank Therapie durchschritten, so kann über die Phase der Anerkennung von Missverständnissen das andere Ende des U, das Gelobte Land des „Verstehens“, erreicht werden.
Zweitens eignet sich das „große U“ auch zur Bewältigung des Kulturschocks, den unvermeidlich jeder aus dem Ausland Berichtende erleidet. Wenn wir etwa lesen, „die Russen“ seien kraft ihrer despotischen Geschichte gänzlich unfähig zur Demokratie, „die Polen“ allesamt ein Ausbund von Antisemitismus und militanter Frömmelei, „die Tschechen“ zu keinerlei Selbsttätigkeit fähige konformistische Biertrinker, dann schrillt die Alarmglocke. Dann ist die Stufe drei des „großen U“ erreicht.
Jetzt zur Therapie. In leichteren Fällen hilft Orts- bzw. Ressortwechsel. Aber was tun, wenn der Kollege am untersten Punkt des U hängen bleibt? Keine Sorge, wir arbeiten daran. CHRISTIAN SEMLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen