die stimme der kritik: betr.: Joschka und die Betonfraktion
Ein idealer Baustoff für alle Lebenslagen
Diesmal war die Politik ziemlich schnell – für ihre Verhältnisse, versteht sich: Nur wenige Jahre, nachdem in der Jugendmode die Siebziger zurückkehrten, haben auch unsere Staatsmänner und -frauen jene längst versunkene Epoche wieder entdeckt. Zumindest mental streifen sich Merkel, Merz & Co. Adidas-Sneakers im Retro-Design über. Wie die Teenies versuchen sie jetzt nachzuholen, was sie selbst nicht miterleben konnten – die einen aus Altersgründen, die anderen wegen ihrer Abgeschiedenheit in der ostdeutschen oder sauerländischen Diaspora.
Was dem Chaos-Club an der Spitze der C-Partei leider entgangen ist: Die Konservativen spielten in den Schlachten, von denen die Veteranen jetzt erzählen, so gut wie keine Rolle. Der Staat, den der junge Joschka attackierte, wurde von der SPD regiert. Mit den Sozialdemokraten, die den Außenminister heute verteidigen, war sich Sponti Fischer einst alles andere als grün. Der Stein des Anstoßes war freilich nicht der Juso Gerhard Schröder, sondern die sozialdemokratische Betonfraktion. Wobei bislang meist übersehen wurde, dass der Begriff durchaus wörtlich zu verstehen ist. Denn die Gesellschaftsreform à la SPD beruhte damals auf der Vorstellung, dass alle Probleme mit Beton zu lösen seien.
Das gilt keineswegs nur für das Frankfurter Westend, wo die sozialdemokratische Stadtregierung alte Gründerzeitvillen abräumen und durch Bankhochhäuser aus Beton ersetzen ließ. Auch im Kampf gegen die Bildungsmisere setzten die SPD-Wissenschaftsminister auf den vielseitigen Baustoff: Sie ließen einfach ein paar neue Hochschulen in die Landschaft betonieren, in Bielefeld und anderswo.
Drohte einer Kommune der Verkehrskollaps, ließen die Stadtväter mit dem roten Parteibuch ebenfalls den Betonmischer anrollen. Eine Stadtautobahn auf Stelzen musste her. Wollten SPD-Politiker mit intellektuellem Anstrich die Parole „Kultur fürs Volk“ in die Tat umsetzen, gaben sie kurzerhand ein neues Stadt- oder Staatstheater in Auftrag – natürlich aus Beton. Da fallen die paar Kubikmeter kaum noch ins Gewicht, die im Kampf gegen den Terrorismus für ein neues Hochsicherheitsgefängnis investiert wurden.
Ein Vierteljahrhundert später ist die Betonmanie zwar tot, doch an ihre Stelle trat eine neue Zwangsvorstellung. Heute glauben Politiker jeder Couleur, alle Probleme seien „virtuell“ zu lösen. Das wird späteren Generationen nicht weniger skurril erscheinen.
RALPH BOLLMANN
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