die stimme der kritik: Betr.: Ich bekenne (2)
Mein 72er Bolzenschneider
Ein Bolzenschneider, wie Bild ihn Jürgen Trittin andichten wollte – da war doch was? Genau. Ich habe noch einen im Keller, fällt es mir gleichzeitig mit der alten Parole „Enteignet Springer“ ein. Meiner ist von 1972, also aus der Zeit nach 68 und nach „Willy wählen“. Nur ein einziges Mal gebraucht, sieht er fast aus wie neu.
Es war im Sommer 1972, als der Bolzenschneider seinen Zweck erfüllt hat. Ein Jahr vorher hatten Jusos, Falken und andere linke Gruppen angefangen, am Baldeneysee in Essen zu demonstrieren: „Der Zaun muss weg – Freier Zugang zum Ufer“. Der Protest richtete sich gegen den Prominentenklub „ETuF“ – Essener Turn- und Fechtklub. Der hatte in den Nachkriegswirren kurzerhand das bis dahin freie Ufer mit einem Zaun gesperrt. Aus dem Seeweg wurde ein Umweg über Bahngleise und eine Landstraße ohne Gehsteig.
Die Sperrung geschah widerrechtlich, fand ich beim Ruhrverband heraus, dem Eigentümer des Uferwegs. Also nichts wie ran an den Zaun. Im Sommer 71 demonstrierten wir zunächst friedlich und im Frühjahr 72 schon etwas nachdrücklicher gegen die „Bonzen, die sich dort eingeigelt hatten“ – ein-gei-gelt, rätselten tausende Spaziergänger, als sie unser erstes Flugblatt lasen. Bei der Neuauflage haben wir dann den Widerstand nicht mehr auf die Grammatik ausgedehnt; vorschriftsgemäß wurde das Wort nach dem fünften Buchstaben getrennt: einge-igelt. 20.000 Essener folgten unserem Aufruf, am See zu spazieren.
Der Anfang des Protestmarsches war einfach, die Menschenmassen mussten nur durch den EtuF-Eingang zum Uferweg strömen. Doch kamen sie nicht wieder raus aus dem Gelände: Am anderen Ende versperrte der Zaun den Ausgang. So konnten eine ganze Polizeihundertschaft und 20.000 Essener zusehen, wie mein frisch gekaufter Bolzenschneider in Aktion trat. Knack, knack, und der Weg war frei. Da sonst kein Handwerker, war ich selbst erstaunt, wie mühelos ein Bolzenschneider funktionieren kann.
Führende SPD-Genossen wollen sich jetzt dafür einsetzen, dass dieses 400 Meter lange Wegstück nach mir benannt wird – allerdings erst nach meinem Tod. Natürlich habe ich nichts dagegen, wenn dieser Abschnitt, über den jetzt Jahr für Jahr hunderttausende wandern, noch möglichst lange ohne Namensschild bleibt. WERNER ALBERTS
Damals langhaarig und freiberuflicher Journalist, heute ergrauter WDR-Redakteur im Ruhestand
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen