die Wahrheit: Die Robbe des Winzers
Ich bin nicht sicher, ob die Überschrift zutreffend ist, da ich keine Ahnung habe, worum es in diesem Text gehen wird. Finden Sie es gemeinsam mit mir heraus!
Wir fangen einfach ganz vorn an: Mein Leben lang hatte ich gedacht, ich sei taub, bis sich dann herausstellte, dass lediglich der rechte Lautsprecher meiner alten Stereoanlage defekt war. Bitte verwechseln Sie diesen Fall nicht mit dem des bekannten Übersetzers und Kolumnisten, der erst mit vierzig zu sprechen anfing, weil er irrtümlich angenommen hatte, sprachliche Äußerungen hätten formal wie Opernarien, zumindest aber wie Lieder von Schubert oder Schumann zu sein. Wenn Sie beide Fälle genau miteinander vergleichen, werden Ihnen die Unterschiede nach einiger Zeit gewiss auffallen. Ich neige zu der Ansicht, mein Irrtum sei von grundsätzlicherer Art gewesen.
Selbstverständlich war mein Leben nach der Entdeckung des oben genannten Defekts völlig verändert. Nichts war mehr wie vorher. Zu jener Zeit betrachtete ich es als eine günstige Koinzidenz, dass ich ein Paar neuwertiger Lautsprecher erbte. Ich schloss sie an die alte Stereoanlage an, und nun konnte ich sogar Musik hören! Der erste musikalische Eindruck, den ich auf diese Weise empfing, war eine von WDR 3 gesendete Rundfunkübertragung der Oper "Die Robbe des Winzers". Daher kommt vielleicht die Überschrift dieser Kolumne. Als ich später zu einem Freund davon sprach, erinnerte er sich: "Bei dieser Musik habe ich mir einmal unheimlich die Nase geputzt!"
Deshalb und weil "diese Musik" das Erste war, das ich jemals hörte, möchte ich mir an dieser Stelle die Arbeit machen, ein paar Bemerkungen zur Oper "Die Robbe des Winzers" anzufügen. Zunächst: Von wem ist die Komposition? Wer schrieb das Libretto? Ich will nur so viel verraten, dass die Urheberschaft umstritten ist, zumindest spricht einiges dafür, dass ich mir das Ganze lediglich einbilde (kreislaufbedingte Einbildung). Die Handlung ist opernunspezifisch komplex (700 Seiten) und faszinierend, ein Kommentator des Kultursenders WDR 3 würde sie "durchfasziniert" nennen, was ganz und gar dem Sprachgebrauch heutiger Kulturredakteure entspräche. Eine WDR-3-Moderatorin sprach denn auch einmal von den "Siebenmeilenstiefeln Beethovens", die einem anderen Komponisten "im Nacken gesessen" hätten.
Die Wendung "sich für etwas faszinieren" habe ich dort ebenfalls vernommen. Dies nur am Rande, zurück zur Opernhandlung: Der Winzer macht seine Schmaltier-Robbe im ersten und zweiten Akt zur Schönheitskönigin, im vierten sogar zur Bezirksvertretungsgöttin des Weinbauern-Verbands. Die damit verbundenen Gesetzesprozeduren und Aktennotizen wurden ungekürzt in Fraktur gesungen. Weiß Gott keine Kleinigkeit!
(An dieser Stelle folgen im eingereichten Manuskript so unglaubliche Schweinereien, dass selbst leidenschaftlichste Verfechter der freien Meinungsäußerung nach der Zensur rufen würden, sofern sie nicht in ihrem tiefsten Innern hoffnungslos verderbt wären. - Die Red.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“