der rote faden: Wenn man nicht weiß, was man sieht, sieht man nichts
Durch die Woche mit Klaus Raab
Wie jeder vernünftige Mensch versuche auch ich mich an der Herleitung von Gründen, warum die „Fridays for Future“-Bewegung genau das Richtige tut. Abgelenkt von meinen Bemühungen wurde ich in der vergangenen Woche allerdings durch die Veröffentlichung eines Fotos, das ein schwarzes Loch zeigen soll. Dabei ist das Bild bemerkenswert schlecht. Man sieht einen unscharfen leuchtenden Kreis, der ins Orangefarbene tendiert. Die untere Kreishälfte ist dicker als die obere; rundherum und in der Mitte ist alles schwarz. Wenn man nicht weiß, was man sieht, sieht man eigentlich nichts.
Das halbe Internet hatte wie immer keinen Blassen, erkannte aber, dass etwas Großes vor sich ging, und fühlte sich folglich berufen, über die eigene Ahnungslosigkeit hinwegzusehen und Schwarzes-Loch-Witze mit der Welt zu teilen Manche fühlten sich beim Anblick des Fotos an einen Donut erinnert, andere an das Auge von Mordor aus der „Herr der Ringe“-Filmtrilogie. Ich selbst dachte an ein Foto von der Deckenbeleuchtung in der Neuköllner Ringo-Bar, das ich, gewiss aus guten Gründen, um 2010 herum gemacht habe. Die andere Hälfte des Internets war wie immer voll mit Expertisen und Erklärungen.
Angesichts der Vielzahl von Witzen und Links zu Begleittexten, die mir in meine vielfältigen Timelines gespült wurden, gelangte ich zu der festen Auffassung, dass es sich bei der Lochgeschichte um eine Angelegenheit von Bedeutung handeln musste. Dummerweise hatte ich allerdings gerade die Auslegeware zu saugen, Nudelwasser aufzusetzen und eine Zugbuchung vorzunehmen, bevor ich ein Teammeeting zur Organisation der Kinderbetreuung in den Osterferien besuchen musste. Aber immerhin, ich hatte locker 30 Überschriften absorbiert; irgendwas war auch mit Einstein. Und als ich abends die Fernsehnachrichten einschaltete, ging es um die Frage, ob so ein schwarzes Loch die Erde verschlucken könnte. Der beliebte Physiklehrer Harald Lesch kicherte und verneinte. Um ein Hollywood-fähiges Szenario ging es nicht. Ich fühlte mich also im Bilde.
Tags darauf las ich im New Yorker jedoch einen Artikel über den Umgang mit Informationen im Social-Media-Zeitalter beinahe zur Gänze quer. Eine These darin lautete, der Überfluss an verfügbaren Informationen und Veröffentlichungen führe zu einer Wissensillusion. Dadurch, dass man beim Überfliegen von Überschriften ständig irgendwelche Informationsbausteinchen aufsauge, würden viele deutlich überschätzen, was sie wirklich wüssten. Ich fühlte mich ertappt.
Also beschloss ich, mich bei nächster Gelegenheit eingehend mit schwarzen Löchern zu befassen – ein Entschluss, der nach wie vor steht –, und befand, man könne den Kindern auf gar keinen Fall die Devices kaufen, die sie sich wünschen, jedenfalls nicht, bevor sie bewusst mit den Geräten umgehen könnten. Im New Yorker stand schließlich, zu was so was führe.
Da piepste meine kleine Kiste, und wo ich sie schon in der Hand hatte, brachte ich mich auf den neuesten Nachrichtenstand: Aha, auf einer Computerspielmesse war etwas los, irgendein Typi hatte wieder ein Problem mit Schuleschwänzen am Freitag, und in der FAZ hatte jemand etwas Empörendes geschrieben. Ich nickte wissend, als mir ein weiterer Text begegnete, der nach Aufmerksamkeit verlangte: Auf den Seiten von CNN stand, ein Reporter habe getwittert, sein dreijähriger Sohn habe an Papas iPad herumgespielt und viele Mal ein falsches Passwort eingegeben. Mit jeder falschen Eingabe habe sich die Frist verlängert, bis man es wieder entsperren könne, und so sei das Gerät für 25.536.442 Minuten außer Gefecht gesetzt, also bis zum Jahr 2067. Hier sehe man Grund Nummer 580, warum man die Kinder mit der Technik nicht allein lassen sollte, hieß es. Auch da nickte ich wieder wissend.
Jetzt allerdings, da ich fokussiert an dieser Kolumne arbeite, die Sie gerade querlesen, und mich höchstens fünfmal nebenbei bei Twitter eingeloggt habe, möchte ich doch widersprechen. Der Dreijährige sandte eine Botschaft wider die allgemeine Halbinformiertheit in die Welt! Ich würde wetten, dass sein Vater einen ganzen Artikel über schwarze Löcher gelesen hat, seit das Ding nicht mehr geht.
Die Geschichte von dem Kind, das ein iPad in eine Glasplatte verwandelte wie Wein in Wasser, handelt in meinen Augen davon, dass die nachwachsenden Generationen die Probleme der Welt klarer sehen als wir Gewohnheitsheinis und radikal zu handeln in der Lage sind.
Interessanterweise habe ich, ohne mich damit zu beschäftigen, so nun doch getan, was ich vorhatte – nämlich begründet, warum die „Fridays for Future“-Bewegung das Richtige tut. Und wie war das möglich? Indem ich ständig am Handy hing. Ja, ich weiß. Es ist schon alles sehr, sehr kompliziert.
Nächste Woche Johanna Roth
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