der nachruf: Marie Nejar aus St. Pauli wollte die sein, die sie war

Marie Nejar hat früh verstanden, dass alle möglichen Leute, darunter ihre Mutter, Schlagerbosse und Goebbels, etwas in ihr sahen, was sie nicht war. Und sie hat gelernt: Zuschreibungen sind Gift. Sofern sie eine Wahl hatte, entzog sie sich. In der Nazizeit hatte sie keine.
Die 1930 geborene Hamburgerin wuchs bei der Großmutter auf. Diese wollte, dass sie Musikerin wird. Wie Marie Nejars Mutter Cécile. Aber die Enkelin will tanzen. „Untersteh dich, Dinge zu wollen“, habe die Großmutter gesagt. Sie forderte, dass das Mädchen gehorcht. Mit Tugendhaftigkeit wollte die Großmutter das Kind schützen, denn die Nazis waren an der Macht und Marie Nejar fiel auf. Sie war Schwarz.
Sie wuchs im Stadtteil St. Pauli auf. Obwohl umgeben von Nazis, traf sie auf Gesten des Widerstands: Die Polizisten auf der Davidwache hätten ihre Akte von oben immer wieder unter den Stapel gelegt, und der Nazi-Hauswart ließ sie in den Luftschutzkeller. Ihr Leben sei normal gewesen. Die jüdischen Leute, die hätten gelitten, sie nicht, sagte sie vor Jahren der taz.
In der Schule lernte sie, dass Hitler ein großer Mann sei. Die Großmutter verbot ihr, das auch nur zu denken. Die Welt der Erwachsenen war für sie schwer zu fassen. Die Welt der Kinder war unverbrauchter. Beschimpften die Erwachsenen sie, weil sie Schwarz war, widersprachen ihre Freundinnen, die keine Hautfarbe sahen. Gerade weil das Kind Schwarz ist, wird es für Nazi-Propagandafilme nützlich und von Goebbels persönlich vom Unterricht befreit. Im Film „Münchhausen“ fächelt sie Hans Albers mit einem Palmwedel Luft zu. In „Quax in Afrika“ ist sie eine afrikanische Prinzessin. Der weiße Held: Heinz Rühmann. Erst als Nejar in den BDM will, also den weiblichen Zweig der Hitlerjugend, und davongejagt wird, versteht sie, dass nichts normal ist. Sie muss Zwangsarbeit leisten, vor der konnte die Großmutter sie nicht schützen, und auch nicht vor der Ablehnung durch die leibliche Mutter Céline. Diese fand ihr Kind, dessen Vater ein Schiffssteward aus Ghana war, hässlich. Marie Nejar hörte, wie die Mutter das sagte. Aber diese Frau sei ihr ohnehin egal gewesen: Die Großmutter sei ihre wahre Mutter gewesen.
Nach dem Krieg und dem Tod der Großmutter verdingte Nejar sich als Zigarettenverkäuferin am Timmendorfer Strand. Zufällig sang sie dabei einmal in ein Mikrofon, das die Musik nach außen trug und wurde entdeckt. Fortan tingelte sie durchs Land – mal mit Peter Alexander, mal mit Vico Torriani, Lale Andersen, Cornelia Froboess.
Ein schrecklicher Teddy
Sie wurde zum singenden Kinderstar aufgebaut, ihr wurde der Kunstname „Leila Negra“ gegeben. Naiv sei sie gewesen,habe sich die Bedingungen diktieren lassen. „Mamatschi“, „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere“, „Mein Teddybär, mein Teddybär“, solche halbseidenen Lieder sang sie. Man schickte sie mit Teddy auf die Bühne. „Wie lange noch?“, fragte sie sich eines Tages: Mit 27 Jahren verschwand sie aus dieser Öffentlichkeit, wurde Krankenschwester. Ihr Versuch, nach Martinique auszuwandern scheiterte ebenso wie ihre Beziehung mit einem Nigerianer.
Erst die antikoloniale Bewegung hat sie wiederentdeckt: Nejar wurde auf Diskussionen eingeladen, bei denen sie von ihrem Jahrhundertleben als Schwarze Deutsche erzählte. Auch ihre Autobiografie entstand. Menschen wie Marie Nejar haben viel dafür getan, dass die Mehrheitsgesellschaft versteht, was Rassismus ist. Wie offen Ausgrenzung sein kann, oder wie subtil, wie dumm. Ohne Einspruch von Betroffenen wie ihr würden viele es meist nicht mal merken. Jetzt ist ihre Stimme verstummt; am 11. Mai ist Marie Nejar gestorben. Waltraud Schwab
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