debatte: Gefährliche Gretchenfrage
Wer die Demokratie schützen will, muss das Völkerrecht wahren. Dieser Grundgedanke wird hierzulande nicht konsequent genug verfolgt
Die Treue der Bundesregierung zum Völkerrecht erlebt dieser Tage einen jähen Absturz. Seit 2022 beruht die westliche Unterstützung für die Ukraine maßgeblich auf der Völkerrechtswidrigkeit des russischen Angriffs. Die Kritik der Bundesrepublik an den massiven Völkerrechtsverletzungen Israels im Gazastreifen bleibt dagegen verhalten. Deutschland liefert weiter Waffen, Kanzler Friedrich Merz lud den israelischen Premier Benjamin Netanjahu trotz Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs ein, Sanktionen auf EU-Ebene scheiterten an Deutschland. Die jüngsten Angriffe Israels und der USA auf den Iran potenzieren den Konflikt mit dem Völkerrecht: Von Regierungen und Experten werden sie weltweit als völkerrechtswidrig eingestuft – die Bundesregierung hält sich bedeckt und lässt die Frage, ob Israel Selbstverteidigung üben durfte, bewusst offen.
Völkerrecht, so scheint es, ist für unsere Regierenden nur dann relevant, wenn es in ihre Agenda passt. Nicht westliche Beobachter werfen Deutschland schon länger Doppelstandards und selektive Rechtsbrüche vor. Es gibt keine Völkerrechtspolizei, die solche Vorfälle ahndet. Wozu also das Völkerrecht wie eine Monstranz vor sich hertragen? Nach einer Position lässt sich Frieden nur durch universelle Regeln, Institutionen und Verfahren sichern. Für diesen Standpunkt sprechen zunächst moralische Gründe. Er folgt dem kantischen Leitbild eines Weltbürgerrechts, das der gleichen Freiheit aller Menschen entspricht und durch einen weltweiten Staatenbund abzusichern ist. Aber auch aus pragmatischer Sicht spricht für diese Haltung, dass selbst mächtige Staaten nicht jeden Konflikt militärisch austragen können. Das gilt besonders heute, da kein Staat mehr eine hegemoniale Position genießt. Mag zwar der russische Imperialismus vor allem ein Problem der Europäer sein, so dürfte selbst Donald Trump eine chinesische Expansion im pazifischen Raum skeptisch sehen. Nur gemeinsame Regeln, Institutionen und Verfahren versprechen hier Abhilfe. An die müssten sich alle halten.
Die Gegenposition singt das Hohelied der staatlichen Souveränität. Danach lässt sich Frieden auf internationaler Ebene am besten dezentral durch mächtige Staaten organisieren. Sie kontrollieren jeweils ihre Einflusssphären und halten sich gegenseitig in Schach, Verständigung erfolgt nur punktuell. Dies macht das Völkerrecht zwar nicht überflüssig, weist ihm aber eine gänzlich andere Rolle zu: Es fixiert situative Kompromisse, die stets unter dem Vorbehalt vitaler Interessen der beteiligten Staaten stehen. Aus pragmatischer Sicht liegen die Vorteile des Souveränismus auf der Hand: Solange ein Weltstaat unrealistisch bleibt, gibt es Kriege. Da ist Wehrhaftigkeit Trumpf. Weniger mächtige Staaten verbünden sich mit mächtigen – oder haben Pech. Das weltmännische Schulterzucken der Souveränisten („Realisten“) kann indes nicht ihre moralischen Überzeugungen verschleiern: Sie halten die Aufteilung der Welt in Staaten gegenüber einem weltweiten Staatenbund für vorzugswürdig. Fast immer hängt dies mit der behaupteten Homogenität staatlicher Gesellschaften zusammen. Ob man Letztere sozialkonstruktivistisch oder ethnonational denkt: Im Ergebnis ziehen Souveränisten das zur Staatsräson geronnene Recht der Stärkeren der gleichen Freiheit aller vor.
Die Wahl zwischen beiden Positionen ist eine Gretchenfrage. Die Geschichte hilft kaum weiter. Der Souveränismus befeuerte im 19. Jahrhundert den Kolonialismus, bevor er in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs endete. Der Universalismus inspirierte zwar die Charta der Vereinten Nationen, doch deren Effektivität steht so sehr infrage wie weitergehende Weltstaatsphantasien. Das entscheidende Argument für Universalismus ist ein anderes. Es betrifft die Wechselwirkungen zwischen außenpolitischem Handeln und demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Kolonialismus verändert auch die Kolonisatoren, verankert Rassismus und Gewalt in ihren Gesellschaften. Der Schriftsteller Aimé Césaire und die Publizistin Hannah Arendt sprachen insoweit vom Bumerangeffekt des Kolonialismus. Er habe autoritäre und diskriminierende Praktiken eingeübt, auf die im 20. Jahrhundert der Faschismus baute. Genauso warnten der Religionsphilosoph Jeschajahu Leibowitz und der Historiker Omer Bartov schon vor Jahrzehnten vor dem korrumpierenden Effekt der israelischen Besatzung – der sich nun in den Angriffen der Netanjahu-Regierung auf den Obersten Gerichtshof materialisiert.
Solche Wechselwirkungen sind auch für Deutschland brisant. Wer grundlegende Standards im globalen Kontext nicht respektiert, wird sie auch im Innern leichter über Bord werfen. Ist es Zufall, dass Deutschlands Völkerrechtsvergessenheit mit der Blüte rechtsautoritärer Kräfte zusammenfällt? Die Hamas israelischer Rechtsverstöße zu bezichtigen oder migrationspolitische Fügsamkeit von der Justiz zu fordern, enthumanisiert und diskriminiert die Betroffenen jeweils im Namen der Staatsräson. LGBTIQ-Anliegen bleiben unter dem Vorwand staatlicher Neutralität im Regen stehen, vermeintliche Neutralitätspflichten müssen auch für Einschränkungen von Wissenschaft und Kunst herhalten, die die Staatsräson kritisch hinterfragen. Angriffe auf Völkerrecht und Rechtsstaatlichkeit sind argumentativ verknüpft. Das Völkerrecht zu beachten, heißt damit auch, unsere Verfassung zu schützen. Verabschiedet sich die Bundesregierung selektiv vom Völkerrecht, gefährdet sie die demokratische Rechtsstaatlichkeit. Die Staatsräson lässt sich für den einen wie den anderen Zweck instrumentalisieren. Institutionen und Gerichte, die sich entgegenstellen, drohen delegitimiert zu werden. Ausländische Kolleg:innen werfen Deutschland vor, Nahostdebatten drehten sich vor allem um uns selbst. Wie sollte dies auch anders sein, wenn beides zusammenhängt? Achten wir das Völkerrecht also auch um unserer selbst willen.
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