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Labour-Regierung in GroßbritannienKeir Starmers Dilemma

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Großbritannien ist zunehmend unklar, wofür die Labour-Regierung steht. Sie verspielt Vertrauen auf allen Seiten.

Halbwarm, halbkalt, irgendwo im nirgendwo und einfach nur schlapp, das ist Keir Starmer Foto: Chris Furlong/ap

A m 12. Mai, zehn Tage nachdem die rechtspopulistische „Reform UK“ von Nigel Farage die Kommunal- und Regionalwahlen in England gewonnen hatte, nahm Großbritanniens Labour-Premierminister Keir Starmer Abschied von der bisherigen Migrationspolitik. Das britische „Experiment mit offenen Grenzen“ sei gescheitert, erklärte er in einer Rede in seinem Amtssitz in 10 Downing Street. Wenn alles so weiterlaufe, „werden wir ein Land von Fremden“. Britische Linke waren schockiert. Die Wortwahl knüpfte direkt an rassistische Hetze aus den 1960er und 1970er Jahren an.

Keine zwei Monate später ist Keir Starmer selber entsetzt. Die Wortwahl am 12. Mai „war falsch“, sagte er am vergangenen Wochenende seinem Biografen Tom Baldwin in einem Gespräch für die Sonntagszeitung Observer. „Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bereue zutiefst, sie benutzt zu haben“. Er habe den Redetext wohl nicht richtig gelesen.

Echt jetzt? Großbritanniens ehemaliger Generalstaatsanwalt, Meister des peniblen Aktenstudiums wie kein anderer Politiker im Land, redet plötzlich aus Versehen wie Nigel Farage?

Vor einem Jahr, am 4. Juli 2024, errang Labour unter Keir Starmer nach 14 Jahren Opposition einen grandiosen Wahlsieg. Heute ist die eigentlich noch junge Labour-Regierung ein wandelnder Scherbenhaufen. Die migrationsfeindliche Rede, die Starmer heute bedauert, ist da nur ein Beispiel. Die symbolträchtigen Sparmaßnahmen im Sozialbereich, die er heute stückchenweise wieder zurücknimmt angesichts des anschwellenden innerparteilichen Widerstands, sind ein weiteres.

Teure Anzüge, Taylor-Swift-Konzertkarten für die Kinder: nichts war den Labour-Größen zu schäbig

Es ist ein Muster: Erst vergrault Starmer seine eigene Basis, um verlorene, nach rechts gewanderte Labour-Wähler zurückzuholen. Dann vergrault er diese wieder, indem er sich der eigenen Anhängerschaft wieder anbiedert. Am Ende sind alle Seiten unzufrieden und haben kein Vertrauen mehr. Das erklärt in großem Maße, warum sich so viele Wähler Nigel Farage zuwenden – „Reform UK“ schafft es als einzige Oppositionspartei, als Volkspartei aufzutreten.

Im Sommer 2024, direkt nach dem Machtwechsel, wurden die Weichen gestellt, die den Starmer-Zug haben entgleisen lassen. Großbritannien erlebte zum einen wie aus dem Nichts tagelange massive, von rechts geschürte Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten nach der brutalen Ermordung dreier Mädchen durch einen 17-jährigen ruandischer Abstammung in einer Messerattacke; die Justiz ging gegen die weißen Gewalttäter außergewöhnlich robust vor.

Fast gleichzeitig kündigte die Regierung ebenso robust schmerzhafte Sozialkürzungen, begründet mit der umstrittenen Behauptung, das von den Konservativen hinterlassene Haushaltsloch sei viel größer als gedacht. In den Wochen danach aber beherrschte etwas anderes die Schlagzeilen: eine schier endlose Abfolge von Enthüllungen über Vorteilsnahme durch so gut alle führenden Labour-Politiker, durch Entgegennahme großzügiger privater Geschenke von Parteispendern in der Zeit, als Labour noch in der Opposition war, aber auf dem Sprung an die Macht stand und damit attraktiv für Lobbyisten. Teure Anzüge und Luxusaccessoires für lau, Taylor-Swift-Konzertkarten für die Kinder: nichts war den Labour-Größen zu schäbig.

Alles zusammengenommen war es ein Desaster. Im Umgang mit rechten Gewalttätern zeigte der Staat, dass er durchaus hart durchgreifen kann, wenn er will. Wenn er das dann gegen illegale Migration nicht tut, wird das der Labour-Regierung als zweierlei Maß ausgelegt. Und dann rechtfertigen die neuen Regierenden auch noch vormittags die Annahme privater Luxusgeschenke und nachmittags die Notwendigkeit von Sozialkürzungen für die Ärmsten.

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Seit diesem fatalen Sommer 2024 versucht Starmer vergeblich, das alles geradezurücken. Die Zuwanderung bleibt hoch, aber Starmer steht nicht dazu. Die Sozialausgaben bleiben hoch, aber Starmer steht nicht dazu. Die Militärausgaben sollen steigen, aber Starmer hat dafür nicht die Mittel. Er verteidigt öffentlich eine Politik, die er nicht umsetzen kann. Das Problem dabei ist nicht, ob die Politik rechts oder links ist. Es ist, dass die Regierung nicht tut, was sie sagt.

Außenpolitik nützt zu Hause wenig

Im ersten Halbjahr 2025 war Starmer vor allem außenpolitisch unterwegs. Er fand ein gutes Verhältnis zu Donald Trump, er rief eine europäische „Koalition der Willigen“ für die Ukraine ins Leben, er schloss ein Partnerschaftsabkommen mit der EU und Handelsabkommen mit Indien und den USA. In der Welt hat er Statur. Aber das nützt zu Hause wenig.

Das alles ist nicht in erster Linie ein persönliches Problem von Keir Starmer, wie es viele Kommentatoren in ihren Jahrestagsrückblicken suggerieren. Es ist das Problem der europäischen ­Sozialdemokratie des 21. Jahrhunderts. Schon Labours Wahlsieg 2024 blieb mit 34 Prozent der Stimmen deutlich hinter allen Umfragen und Erwartungen zurück, und nur die Spaltung der rechten Opposition zwischen Konservativen, den Tories, und ­Reform UK ermöglichte es, dass Labour doch eine Zweidrittelmehrheit im ausschließlich mit Direktmandaten bestückten Unterhaus erringen konnte. Inzwischen ist Labour in den Umfragen auf 20 bis 25 Prozent zurückgefallen, noch hinter Reform UK.

Die Lösung des Dilemmas besteht nicht in einer Rückkehr zu vermeintlichen linken Gewissheiten – wäre das so, wäre Vorgänger Jeremy Corbyn Premierminister geworden. Sie kann aber auch nicht in einer Flucht in rechte Gewissheiten bestehen – wäre das so, könnte Labour gleich zur Wahl von Nigel Farage aufrufen. Starmers Lösung ist einstweilen: Weitermachen. Möglicherweise ist das tatsächlich alternativlos. Das heißt aber nicht, dass es gut ist. Starmer ist wider Willen der richtige Premierminister für ein ratlos und zynisch gewordenes Land.

Ein redlicher Mann, der sich ständig abmüht und doch nie das Glück findet – darin können sich die Briten wiedererkennen.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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