debatte: Die Feinde der Demokratie
Vor 50 Jahre wurde der Radikalenerlass verabschiedet. Er war der Gegenpart zu Brandts Reformpolitik. Heute kämpfen Betroffene um ihre Rehabilitierung
Michael Csaszkóczy
(51) ist Lehrer in Heidelberg. 2004 erhielt er wegen seiner Aktivität in antifaschistischen Gruppen Berufsverbot in Baden-Württemberg und später in Hessen – der Versuch einer Wiederbelebung des Radikalenerlasses. Nach mehrjährigen Prozessen wurde diese Maßnahme letztinstanzlich als Grundrechtsverletzung verurteilt und aufgehoben.
Am 28. Januar 1972 fassten die Ministerpräsidenten der Länder einen folgenreichen Beschluss, der unter dem Namen Radikalenerlass in die Geschichte eingehen sollte. In den folgenden Jahren wurden 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber für Berufe im öffentlichen Dienst überprüft. Der Inlandsgeheimdienst erhielt im Zuge der „Regelüberprüfung“ die Aufgabe zu beurteilen, wer als Staatsfeind zu gelten habe. Personen, die „nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt oder gar nicht erst eingestellt. Die Überprüfungen führten nach Zählung der Initiative „Weg mit den Berufsverboten“ bundesweit zu etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen.
Ob Willy Brandt den Radikalenerlass später als seinen größten politischen Fehler bezeichnet hat oder ob es sich bei diesem nicht belegten Zitat um den Versuch handelt, das sozialdemokratische Heiligenbild von dunklen Flecken zu reinigen, kann dahingestellt bleiben. Fest steht, dass die Politik der Berufsverbote das konsequente Gegenstück zu „mehr Demokratie wagen“, neuer Ostpolitik und zur 1970 erlassenen Amnestie für Demonstrationsdelikte im Rahmen von APO-Aktivitäten war. Eine aus dem Ruder zu laufen drohende Generation erhielt die Einladung, wieder mitzuspielen, bekam aber gleichzeitig deutlich gezeigt, in welchem Rahmen sich oppositionelle Politik zu bewegen hat. Die damit verbundene Hexenjagd gegen alles, was irgendwie links schien, stieß seinerzeit auf große gesellschaftliche Gegenwehr und führte in anderen Ländern Europas zu Besorgnis. Der Begriff „Berufsverbot“ fand als Fremdwort Eingang in französische und englische Lexika. Offensichtlich war, dass hier die postnazistische BRD Jagd auf altbekannte Feindbilder machte.
Fünfzig Jahre später fordern Betroffene nun die Aufarbeitung des Radikalenerlasses und eine Rehabilitierung derjenigen, deren Existenzen damals nicht nur beruflich beschädigt, sondern regelrecht zerstört wurden. Dazu gibt es bislang nur in einzelnen Bundesländern – wie in Niedersachsen – zaghafte Versuche. In Baden-Württemberg werden seit 2018 an der Universität Heidelberg Berufsverbote erforscht. Das Ergebnis lässt sich aus dem Zwischenbericht erahnen: Ungeachtet der akribischen Aktenauswertungen und Fallschilderungen durch die beteiligten Wissenschaftlerinnen dekretiert Professor Edgar Wolfrum, der das Projekt leitet, wie der Radikalenerlass einzuordnen sei. Er sei nötig gewesen, weil „gegen Extremisten von rechts und links die ‚wehrhafte‘ bzw. ‚streitbare‘ Demokratie in Stellung gebracht werden musste“. Das hat mit der tatsächlichen Geschichte des Radikalenerlasses wenig zu tun. Es gab nur fünf Fälle, in denen Berufsverbotsverfahren gegen Rechte im öffentlichen Dienst eingeleitet wurden.
Viel Zeit bleibt den Betroffenen nicht mehr. Die meisten von ihnen gehen auf die 80 zu. Man sollte meinen, eine Geste des Bedauerns zum 50. Jahrestag sollte nicht allzu viel Überwindung kosten. Selbst wenn sie in einzelnen Härtefällen zu Entschädigungszahlungen führen sollte, könnten die Bundesländer das aus der Portokasse begleichen. Dass es der Initiative dennoch schwer fällt, eine größere Öffentlichkeit oder gar politische Gremien für ihr Anliegen zu mobilisieren, hat mehrere Gründe.
Zum einen ist nicht ganz klar, was genau unter dem Begriff Radikalenerlass zu verstehen ist: Tatsächlich handelte es sich ja lediglich um Durchführungsbestimmungen für die Anwendung eines Gesetzes, dessen „Gewährbieteklausel“ aus dem NS-„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ übernommen ist. Dieses Gesetz wurde schon vor 1972 gegen Kommunisten (etwa im Zuge des KPD-Verbotes 1956) angewandt und wurde auch später gegen Linke in Stellung gebracht, wenn auch nie wieder in den Dimensionen der 1970er Jahre. Meist reicht es dabei aus, präventiv mit der Anwendung der entsprechenden Rechtsvorschriften zu drohen.
Die Zeiten, in denen es nötig erschien, tausendfach Berufsverbote auszusprechen, scheinen vorbei zu sein. Wer heute in Erwägung zieht, eine Stelle im öffentlichen Dienst anzutreten, hat in aller Regel verinnerlicht, dass eine allzu kritische politische Positionierung die Zerstörung der beruflichen Existenz zur Folge haben kann. Dazu ist es nicht einmal notwendig, die Praxis des Radikalenerlasses zu kennen. Dass von Beamten politische Konformität erwartet wird, ist im kollektiven Bewusstsein so tief verankert, dass BerufsanfängerInnen sich meist überhaupt nicht vorstellen können, dass es Zeiten gab, in denen es nicht selbstverständlich schien, sich dieser staatlichen Erwartung zu beugen.
Hinzu kommen immer neue politische Vorstöße, einen neuen Radikalenerlass zu etablieren, der sich – selbstverständlich – „gegen Rechts wie Links“ richten soll. Wie genau eine solche Neuauflage aussehen sollte, ist unklar. Der Verfassungsschutz ist personell und logistisch so aufgestellt, dass er eine formelle „Regelanfrage“ kaum noch benötigen dürfte, um aktiv zu werden. Begründet werden solche Vorschläge für Neuregelungen in der Regel mit immer wieder öffentlich gewordenen Neonazis in Polizei, Bundeswehr und Justiz. Warum die bestehenden gesetzlichen Regelungen in diesen Fällen so gut wie nie angewandt wurden, wird dabei nicht thematisiert. Von einem Berufsverbotsverfahren gegen den Gymnasiallehrer Björn Höcke ist bislang nichts bekannt. Disziplinarrechtlich vorgegangen wurde gegen Rechte nur gelegentlich im Fall massiver Straftaten.
In diesem gesellschaftlichen Klima eine Aufarbeitung des staatlichen Unrechts einzufordern, das mit den Berufsverboten verbunden war und ist, ist ein gelinde gesagt ehrgeiziges Unterfangen. Es wäre den Betroffenen zu wünschen, dass sie nicht damit alleingelassen werden.
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