debatte: Ein unendliches Spiel
Ja, wir benötigen Wettbewerb im Gesundheitswesen. Aber er muss die Interessen der Menschen in seinem Zentrum berücksichtigen und schützen
IrisMinde
ist promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Von 2006 bis 2012 war sie als Geschäftsführerin der Herzzentrum Leipzig GmbH bei der Rhön-Klinikum AG tätig. 2012 übernahm sie die Geschäftsführung der Klinikum St. Georg Leipzig gGmbH. Seit 2019 ist sie stellvertretende Vorsitzende des Interessenverbands kommunaler Krankenhäuser e. V. (IVKK).
Die deutsche Gesundheitswirtschaft braucht mehr Marktwirtschaft, verkündete ausgerechnet kurz vor Weihnachten der Vorstand des „Gesundheitskonzerns“ Fresenius, Stephan Sturm. Die Grundlage seines in der FAZ publizierten Plädoyers ist eine bis dato unbewiesene Hypothese: Marktwirtschaft löst alle Probleme der Menschen, auch die Probleme des Gesundheitswesens – und speziell der Krankenhäuser in Deutschland. Zum Beispiel das des fehlenden Pflegepersonals.
Bei Lichte betrachtet stellen wir fest, dass die Marktwirtschaft keinesfalls nur Probleme löst. In Form des westlichen Lebensstils hat sie gerade auch Probleme geschaffen, die der Gesellschaft und dem Gesundheitswesen zu schaffen machen. Ursächlich dafür ist die „dem Markt“ innewohnende Eigenschaft, Bedürfnisse mittels Werbung erst zu wecken, sie dann im Handumdrehen zu bedienen und schließlich gar zu perpetuieren. Andere Bedürfnisse – Stichwort Bewegung – werden mithilfe der Marktwirtschaft vernachlässigt, weil Mobilität und Bequemlichkeit („Convenience“) propagiert werden.
Doch auch im eigentlichen Bereich des Marktwirtschaftlichen gibt es Argumente, die den Zweifel an der Validität von Sturms Ansatz nähren: Die Personalnot in der Pflege ist auf den Systemwechsel im stationären Gesundheitswesen zurück zu führen. Weg von der Daseinsvorsorge als Bringschuld des Sozialstaats, hin zu einer marktwirtschaftlichen Betrachtung und Organisation der Versorgung. Während die Unterfinanzierung der Krankenhäuser chronisch anhielt und als Druckmittel genutzt wurde, belohnte das sogenannte DRG-Abrechnungssystem vor allem „Diagnosen“, während die personalintensive Pflege durch zunehmende Arbeitsverdichtung und „Rationalisierungspotenziale“ massiv unter Druck geriet. Das Verhältnis von schlechter Bezahlung und hoher Arbeitsbelastung sowie Verantwortung desillusionierte Berufseinsteiger wie Bestandspersonal und machte das Berufsbild Pflege unattraktiv. Marktwirtschaftlich übrigens eine absolut lehrbuchmäßige Entwicklung: Verlagerung der Aufwände und Erlöse in Bereiche mit „höherer Wertschöpfung.“
Problematisch hieran ist allerdings, dass die Bezeichnung „höhere Wertschöpfung“ eine rein quantitativ-materielle Betrachtung des Werte-Begriffs wiedergibt. Der immaterielle Wert einer fürsorglichen „Wert-Schätzung“ jener Mitarbeiter, die die Patienten pflegen, hat sich in den Jahren seit Zuspitzung der Fehlanreiz-Problematik im DRG-System bestenfalls „in einer Seitwärtsbewegung“ befunden, also „charttechnisch“ keine positive Entwicklung genommen. Woran liegt das?
Die Wirtschaft, so der Anthropologe und Unternehmensberater Simon Sinek in seinem Buch „Das unendliche Spiel“ wird zunehmend und irrtümlich als endliches Spiel verstanden und gespielt. „Marktführerschaft“, Renditeziele von 15, 20 oder mehr Prozent oder auch nur die Vorstellung, den „Shareholder Value“ zu priorisieren, sind Ausprägungen einer verengten Sichtweise auf ein vermeintlich gewinnbares „endliches Spiel“. Wer die Feststellung teilt, dass Wirtschaft per se ein unendliches Spiel ist, dessen Zweck in einem wert-schöpfenden Beitrag für das Gemeinwesen besteht, muss anerkennen, dass die Priorisierung von Eigennutz per se nicht nachhaltig sein kann, da solcher „Egoismus“ unverzichtbares Vertrauen im Team zerstört. Mit Vertrauensverlust einher gehen auch die Abnahme an Kooperationsbereitschaft in der Organisation und der im Extremfall vollständige Verlust jeglicher Innovationsfähigkeit einher, stellt Sinek fest.
Ja, die fehlgeschlagenen sozialistischen Experimente haben gezeigt, dass staatlicher Dirigismus keine Lösung ist. Erst recht keine, die die Menschen wollen. „Marktwirtschaft“ kann jedoch so lange keine Lösung sein, wie das System unterfinanziert ist und über Dimension und Dichte des Versorgungsnetzes kein demokratisch legitimierter Konsens besteht. Im Gegenteil: in der gegenwärtigen Situation ist „Marktwirtschaft“ eine zusätzliche Belastung für das System, weil damit kommerzieller Eigennutz legitimiert wird, während die im System tätigen Institutionen sich im endlichen Spiel des Verteilungskampfes um viel zu knapp dimensionierte Finanzmittel befinden. Dieses Spiel ist nur deshalb noch nicht völlig gescheitert, weil die Beschäftigten im ärztlichen Dienst und vor allem in der Pflege ein extrem hohes Maß an intrinsischer Motivation mitbringen. Sie wollen der „gerechten Sache“ dienen, von der auch Simon Sinek sagt, dass sie die Grundbedingung für das Gelingen eines unendlichen Spieles sei. Anstatt diese „gerechte Sache“ durch Rahmenbedingungen zu fördern, die die Berücksichtigung der Interessen aller „Stakeholder“ ermöglichen, werden gesundheitspolitisch und betriebswirtschaftlich seit Jahren Entscheidungen getroffen, welche einseitig die Interessen weniger „Shareholder“ begünstigen.
Ob das stationäre Gesundheitswesen überhaupt geeignet ist, kommerzielle Eigeninteressen zu berücksichtigen und zu ermöglichen, ist eine Frage von noch grundsätzlicherer Natur, die ohne eine Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht wohl kaum geklärt werden kann. Unabhängig davon jedoch ist heute überdeutlich, dass „die Marktwirtschaft“ nach dem Verständnis von börsennotierten Gesellschaften wie Fresenius eher Teil des Problems als Teil der Lösung im Gesundheitswesen sein dürfte.
Ja, wir benötigen Wettbewerb im Gesundheitswesen. Aber es muss ein Wettbewerb im Geiste des unendlichen Spiels sein. Dabei kann es nur um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess gehen, der die Interessen der Menschen in seinem Zentrum berücksichtigen und schützen muss. Menschen, die als Patienten umsorgt und gepflegt werden müssen, aber auch Menschen, die diese Pflege und Fürsorge leisten müssen. Mitarbeiterorientierung ist das Schlüsselwort auch für Wirtschaftlichkeit.
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