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das portraitImmer berührend, aber nie kitschig: Goldene Palme für Hirokazu Koreeda

Was kommt nach dem Tod? Man könnte diese Frage als irreführend betrachten, weil sie, der gleichen grammatischen Struktur wie etwa „Was kommt nach der nächsten Kurve?“ folgend, falsche inhaltliche Erwartungen weckt. Was grammatisch möglich ist, muss in der Realität nicht immer Sinn ergeben. Der japanische Regisseur Hirokazu Koreeda hat sich gleichwohl an einer Antwort versucht: In „After Life“ von 1998 lässt er Menschen nach deren Ableben in einer Art Purgatorium verharren, einer hellen Behörde mit höflichen Angestellten und Gästezimmern für die Toten. Sie sind dort aufgefordert, ihre jeweils schönste Erinnerung zu wählen. Die wird dann filmisch nachgestellt – und mit dieser Szene als Dauerschleife entlässt man die Menschen in die Ewigkeit.

Ob so ein Jenseits eine wünschenswerte Einrichtung wäre, sei dahingestellt. Als Film ist es großartig. Stellt Koreeda darin doch scheinbar naive Fragen wie die, worauf es im Leben eigentlich ankommt, mit so einfachen wie erstaunlichen erzählerischen Mitteln. Große Dinge wie beiläufig erscheinen zu lassen, allzu menschlichen Fragen nüchtern, zugleich mit liebevoller Zartheit nachzugehen, ist eine der herausragenden Stärken Koreedas.

Der 1962 geborene studierte Literaturwissenschaftler – von denen, die ihn persönlich kennen, als ruhiger, stiller Typ beschrieben – begann seine Karriere mit Dokumentarfilmen für das Fernsehen. 1995 drehte er seinen ersten Spielfilm „Maboroshi – Das Licht der Illusion“. Spätestens seit dem Erfolg von „Nobody Knows“ aus dem Jahr 2004 zählt Koreeda aber international zu den führenden Regisseuren der Gegenwart. Seine Meisterschaft zeigte er dabei insbesondere in der Zusammenarbeit mit sehr jungen Kindern: Der Film erzählt von vier Geschwistern, deren ältestes zwölf Jahre alt ist, die von der Mutter verlassen werden und fortan für sich selbst sorgen müssen. Das ist manchmal unerträglich hart, andererseits lässt Koreeda die Kinder so überzeugend zur solidarischen Gemeinschaft werden, dass man selbst die bittersten Momente der Handlung durchzustehen in der Lage ist.

Ähnlich geht Koreeda jetzt in „Shoplifters“ vor, für den er in Cannes gerade die Goldene Palme für den besten Langfilm erhalten hat. Ein Mehrgenerationenhaus auf engstem Raum gibt es diesmal zu besichtigen, mit Kindern, die zu Taschendieben erzogen werden, und äußerst unklaren Verwandtschaftsbeziehungen. Koreeda hat dabei eine virtuos zusammengestellte Besetzung gewählt, die der brutalen sozialen Wirklichkeit, für die diese Familie steht, ein anrührendes Antlitz verleiht, ohne auch nur in die Nähe von Kitsch zu gelangen.

Schon in „Unsere kleine Schwester“ (2015) hatte Koreeda mit erweiterten Verwandtschaftsbeziehungen gearbeitet, in „Shoplifters“ treibt er den Gedanken nun auf die Spitze. Was ist Familie? Das kann man, so Koreeda, im Zweifel selbst entscheiden. Ein sehr verdienter Preis für einen Filmemacher, dem man für jeden seiner Filme einen Kinostart auch hierzulande wünschen würde. Tim Caspar Böhme

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