das personal der wahl (1): Wird Joschka Fischer ins Ziel einlaufen?
Der Marathonmann
Er quält sich. Wieder und wieder rennt er an Maschendrahtzäunen vorbei, biegt vom Central Park in die Bronx ein, dreht noch eine Runde, der Trainingsanzug völlig durchgeschwitzt. Als Tom Levy Babe Babington ist Dustin Hoffman in John Schlesingers Film „Marathon Man“ von 1976 eine bedauernswerte Figur. Das harte Training ist für den New Yorker Studenten, den Hoffman spielt, Ersatz in seiner großstädtischen Einsamkeit. Er rennt davon: vor der Vergangenheit, als sein Vater Selbstmord begang in der McCarthy-Ära; und vor dem untergetauchten SS-Arzt Szell, der Juden in Auschwitz vor deren Vernichtung das Zahngold aus dem Mund riss und Babe nun töten will, weil er glaubt, dass dieser sein Geheimnis kennt. Es ist ein Kampf gegen die Zeit, das Laufen wird zur Fluchtbewegung und zeigt zugleich an, wie der entwurzelte Levy unter physischen Entbehrungen zu sich selbst findet, damit er wieder handeln kann.
Als Metapher für den Weg, dessen Bewältigung schon das Ziel ist, passt der Marathon gut in die Siebzigerjahre. Damals gehörte der Sport, der bereits Disziplin der ersten Olympischen Spiele war, zum Bild einer im Joggingfieber befreit auflaufenden Gesellschaft. Damals lebte Joschka Fischer noch in Frankfurt, genoss das Nachtleben und fuhr Taxi.
Glaubt man seiner Biografie „Mein langer Lauf zu mir selbst“, dann kam bei Fischer die Entscheidung, seine bisherige Fettlebe gegen die Askese des Langstreckenläufers einzutauschen, nicht aus Eitelkeit. Es war eher die Angst davor, ein unförmiges Etwas zu sein, dass sich nicht mehr erkennt, wenn es vor dem Spiegel steht. Die Rettung der äußeren Existenz blieb nicht folgenlos: Tatsächlich haben sich 1998 nach seinem Gewichtsverlust vor allem die Boulevardzeitungen mehr für seine neue Figur interessiert als für sein Auftreten als damaliger Spitzenkandidat der Grünen. Unzählig die Bilder, die Fischer bei seinem ersten Marathon in Hamburg zeigen. Das Image wurde zum Zeichen einer mannschaftsdienlichen Gesinnung, ein Attribut seiner wachsenden Popularität: ein Turnschuhminister in Aktion.
Ohne die Betreuung durch den erfahrenen Freiburger Ausdauersportler Herbert Steffny hätte Fischer den aufzehrenden Run vermutlich nicht durchgehalten, auch das kann man auf den Fotos vom Zieleinlauf deutlich erkennen. Für Steffny wiederum ist Marathon der „Achttausender des kleinen Mannes“, ein Kraftakt in Sachen Breitensport. Der Vergleich mit der Besteigung eines Berges hat einigen Charme, wenn man ihn auf die Situation von Fischer überträgt. Die körperliche Höchstleistung findet bei ihm in der Freizeit statt – nicht als Ausgleich, sondern als Belohnung für den Dienst, den der Außenminister ableistet.
Plötzlich kann er vor der Qual, Entscheidungen treffen zu müssen, einfach davonlaufen und in der Masse abtauchen – andere würden vielleicht in irgendeinem Berliner Club das Wochenende durchtanzen. Fischer dagegen zieht aus der Flucht in die Tortur neue Gewissheit. Jede Ankunft im Ziel macht ihn zu einem Überlebenden. Dieses Zusammenspiel von physischer Erschöpfung und Selbstdisziplinierung ist auch bei ihm Ersatz: für den Mangel an jener Lebenskunst, die man ihm früher ansah.
Damit mögen sich all jene identifizieren, die auf dem unsicheren Terrain der neuen Mitte einen Halt für ihre Ich-AGs suchen, egal ob Start-up-Workaholic oder tugendhafter Verantwortungsträger der Berliner Republik. Doch für eine Politik der Zähigkeit lässt sich mit der Beharrlichkeit des Marathonmannes nicht mehr werben, seit selbst Eberhard Diepgen in Berlin ganz populistisch als Turnvater für die Hauptstadt die Laufschuhe angezogen hat. Fischer aber wird irgendwann erkennen müssen: Lauffreude ohne Lebensfreude ist keine.
HARALD FRICKE
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