das ding, das kommt: Retterin, die Angst macht
Mit der Kolbenspritze beginnt die Geschichte der Psychoanalyse: Der Traum von Irmas Injektion, den Freud im Sommer 1895 träumt und aufschreibt, ist es, an dem ihm die Sinnhaftigkeit der nächtlichen Bilderfolgen aufgeht und die Möglichkeit der Deutung von Träumen als Wunscherfüllung.
Ein symbolisch wirksames Requisit ist sie also schon damals. Dabei kann das Instrument um 1900 noch halbwegs als medizintechnische Novität gelten und ist ganz sicher kein archetypischer Gegenstand im Dienste eines wie auch immer gearteten, vermeintlich kollektiven Unbewussten: Erst Mitte des 19. Jahrhunderts hatte ja Alexander Wood die Hohlnadel erfunden, mit der die Karriere der subkutanen oder gar intravenösen Spritzerei als therapeutische Maßnahme und optimale Rauschmittelzufuhr erst so richtig startet: Technische Innovation ist, dafür steht die Geschichte der Spritze von der Morphinisten-Epidemie bis zum Todestrakt exemplarisch, nie nur gut. Sie ist aber eben auch fast nie nur böse: Vorher hatte man die Blutbahn deutlich flächiger geöffnet, um rettende oder schmerzlindernde Gifte in sie einzuspeisen. Oder eben Kuhpockenserum, zwecks Impfung.
Da die Corona-Impfkampagne allmählich anfängt, in Fahrt zu kommen – fast fünf Prozent der Norddeutschen sind teilimmunisiert – und Hamburg und Bremen bereits Termine für die zweite Impfgruppe vergeben, in die jetzt auch Erzieher*innen und Grundschullehrkräfte hochgestuft wurden, ist für viele die Spritze das Ding, das kommt, und zwar ein für die Kategorie fast schon prototypisches. Denn es wird Hoffnung in sie gesetzt, die gute alte Spritze. Es ist ja echt nur ein Piks. Auch ist eine Dosis von gerade mal 0,3 (Pfizer-Biontech) oder 0,5 Millilitern (Moderna und Astra-Zeneca) echt schnell reingedrückt. Und wenn das ein neues Normal ermöglicht, also ein wieder organisierbares Leben, in dem unmundgeschützte Kontakte legal und alltäglich wären … Ach, gebt mir die Nadel!
Aber manchen klopfen dann eben doch die Herzen und sie drohen am Ende zu Impfverweigerern zu werden, aus Scham: Fast 30 Prozent der Menschheit leiden an einer mehr oder minder ausgeprägten Trypanophobie – also Spritzenangst – und fast allen ist sie peinlich. Diese anerkannte phobische Störung ist ernst zu nehmen. Sie lässt sich behandeln. Nur wegspritzen lässt sie sich nicht.
Benno Schirrmeister
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