das ding, das kommt: Posen in Polaroid
Sie war eine der großen visuellen Revolutionen des vergangenen Jahrhunderts und einer der größten kommerziellen Erfolge der Fotogeschichte: In den 1960er-Jahren gab es in jedem zweiten US-Haushalt eine Sofortbildkamera von Polaroid. Faszinierende Kästchen waren das: Ein Druck auf den Knopf und kurz darauf hatte man das langsam wie von Zauberhand entstehende Foto schon in der Hand, ohne Umweg ins Labor und ohne dass man irgendetwas über die chemischen Prozesse wissen musste.
Vor allem die Art, wie man Fotos machte, änderte sich dadurch nachhaltig: spontan konnte man sein, unmittelbar, experimentieren. All das, was man heute per Instagram usw. digital macht – inklusive entsprechender Filter, die diese eigenartig gelbstichige Polaroid-Ästhetik nachträglich ins Bild hineinrechnen.
Gerade das nicht so wie geplant Geknipste, das Unscharfe und nicht perfekt Belichtete hat dabei bis heute seinen Reiz, gerade auch für Künstler*innen. Und weckt seit ein paar Jahren wieder die Sehnsucht nach dem analogen Spontanknipsen: Vor zwei Jahren rettete das „Impossible Project“ die 2007 geschlossene letzte Polaroid-Fabrik im niederländischen Enschede, um die Instantfotografie für einen „riesigen globalen Nischen-Markt“ neu zu erfinden. Und Museen widmen Ästhetik und Technik des Polaroids umfassende Ausstellungen – im kommenden Monat zum Beispiel das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.
Eine verdrehte Version dieser Rückbesinnung kann man ab dem heutigen Samstag in der Städtischen Galerie in Delmenhorst sehen. Dort „jongliert“ der Hamburger Künstler Thorsten Brinkmann (dessen Ausstellung „Life is funny, my deer“ noch bis zum 4. Februar im Kunsthaus Stade zu sehen ist) nicht nur mit 120 ausgewählten Fotoklassikern und Fotografien von zeitgenössischen Künstler*innen aus der Sammlung der Hamburger Griffelkunst-Vereinigung. Er zeigt auch eine eigene Serie: „Se king – director’s shot“. Die ist mit einer der letzten funktionierenden Großformat-Instant-Kameras der Welt fotografiert, die bei der Firma Supersense in Wien steht – 1976 baute Polaroid nur ein paar dieser 120 Kilo schweren Apparate, mit denen sich 51 cm mal 61 cm große Fotoplatten belichten lassen.
Brinkmann persifliert nun nicht nur im Stil seiner (in Delmenhorst und Stade ebenfalls zu sehenden) 2009er-Videoarbeit „Se king“ klassische, aus Malerei und Fotografie bekannte Herrscherposen, etwa indem er sich in Alltagsgegenstände kleidet und eine Vase über den Kopf stülpt, sondern karikiert auch die mit dem Medium Sofortbild assoziierte Schnelligkeit und Spontaneität. Auch wenn Flecken, Fehlbelichtungen und Farbirritationen Komplize Zufall beigesteuert hat: Brinkmann hat jedes Foto präzise kalkuliert. (matt)
„The Juggler“: bis 2. April, Städtische Galerie Delmenhorst
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