big in korea: FRANK KETTERER über die deutsche Nummer 10
WM-Tourist mit neuer Hoffnung
Kann sich zum Beispiel noch jemand an Ernst Albrecht erinnern? Oder Klaus-Dieter Sieloff? Und wenn nicht: Wie sieht’s denn mit Katsche aus, mit Katsche Schwarzenbeck? Also Ernst Albrecht hat früher, ganz früher, mal bei Fortuna Düsseldorf gekickt – und zwar gar nicht so schlecht. Und deshalb durfte er mitfahren zur WM 1934, in Italien fand die statt. Ob und wie es Herrn Albrecht in Italien gefallen hat, ist nicht mehr ganz genau bekannt, verbürgt ist aber, dass er jede Menge Zeit hatte, sich Land und Leute anzuschauen, mehr als ihm lieb sein konnte. Heute steht Ernst Albrecht in den Geschichtsbüchern des deutschen Fußballs als erster deutscher WM-Tourist – und hat damit eine ähnlich herausragende Stellung der Nicht-WM-Spieler wie Klaus-Dieter Sieloff. Der, einst für die Borussia aus Gladbach am Ball, wurde gleich zweimal mitgenommen zu einer Weltmeisterschaft – und dort dann nicht eingesetzt, 1966 in England und vier Jahre später in Mexiko. Dem lieben Katsche wiederum war es vorbehalten, als Titelverteidiger zu einer WM zu fahren, 1978 nach Argentinien nämlich, und dort dennoch nicht spielen zu dürfen, nicht ein einziges Mal. Und damit sind die Herren Albrecht und Sieloff und Schwarzenbeck noch nicht einmal Einzelschicksale, sondern einfach nur die traurige, wenn auch hervorstechende Regel: Insgesamt 58 WM-Touristen zählt die DFB-Geschichte. Nur 1958 spielten alle, die mitfahren durften.
Lars Ricken aus Dortmund ist, historisch betrachtet, also in guter Gesellschaft und braucht sich nicht weiter zu grämen, schließlich fahren auch andere Menschen nach Asien, um ein bisschen Urlaub zu machen und auszuspannen vom Alltag. Wobei: So richtig Urlaub ist das ja auch nicht für Ricken, dafür muss er hier trotz alledem viel zu viel arbeiten. In der Regel zwei Mal pro Tag bittet Rudi Völler, Rickens Boss, zum Tagwerk, und letztendlich ist dieses für Ricken überhaupt die einzige Chance zu zeigen, dass er was und was er kann. „Er trainiert gut und macht seine Sache ordentlich“, hat Völler dieser Tage sogar gelobt. Eingesetzt hat er den 25-jährigen Dortmunder dennoch nicht, wieder nicht, obwohl der doch amtierender deutscher Meister ist und das Nationalmannschaftstrikot mit der Nummer 10 zugeteilt bekommen hat; in anderen Mannschaften tragen das die Besten, in der deutschen die Touristen.
Doch darauf kann der nette Herr Völler wohl keine Rücksicht nehmen, zumal Ricken die 10 ja nur bekommen hat, weil Sebastian Deisler kurzfristig verletzt absagen musste. Deisler hätte ganz sicher gespielt, bei Ricken hingegen hatte man gleich so ein ungutes Gefühl. „Wenn 23 Spieler dabei sind, wird der ein oder andere nicht zum Einsatz kommen. Das ist hart, aber es ist leider so“, weiß Rudi Völler. Der ein oder andere – das ist Ricken. Alle anderen im Team haben bereits mindestens einmal gegen den WM-Ball getreten, und sei es auch nur für ein paar Sekunden, so wie der Schalker Gerald Asamoah. Sonderlich tröstlich für Ricken ist das aber auch nicht, sondern nur noch schändlicher. Und wie es einem gehen kann, der nur so mitfährt zum Spaß, hat unlängst Oliver Kahn erzählt, dem dieses trostlose Schicksal 1994 und 1998 widerfuhr. Kahn: „Nach dem Training bin ich aufs Zimmer gegangen und habe vor Frust ins Bett gebissen. Und am nächsten Morgen bin ich dann mit einem Lächeln wieder zum Frühstück gekommen.“
Ob Lars Ricken, der seine Karriere einmal als großes Talent begonnen, dann ein paar Werbespots gedreht, schließlich ein besonders wichtiges Tor für seine Borussia geschossen hat und seine Karriere eines Tages wahrscheinlich als großes Talent auch beenden wird, in diesen Tagen beim Frühstück lächelt, ist nicht überliefert. Bekannt ist aber immerhin, dass sich der junge Dortmunder durchaus „topfit“ fühlt und gar „nicht frustriert“, so jedenfalls sagt er es selbst. Und die Hoffnung, dass sich an seinem Touristenstatus noch etwas ändern und er tatsächlich noch zu einem echten, richtigen WM-Spieler werden könnte, hat er auch noch nicht ganz fahren lassen. „Es können ja noch drei Spiele werden. Im Laufe eines Turniers kann sich immer was ergeben“, hat Ricken noch vor zwei Tagen gesagt. Und wie leicht kann hier in Asien tatsächlich die halbe Mannschaft wegen einer Hundefleisch- oder Kugelfischvergiftung ausfallen? Spätestens dann würde für Lars Ricken die große Stunde schlagen. Vielleicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen