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bettina gaus über TVWo kein Zwiespalt zu groß ist

Kallwass, Salesch, Holt: Die Zuschauer wollen Urteile, und sie bekommen sie auch – in Minutenschnelle

„Annika, bitte gib diesen Job auf. Du gefährdest unsere Beziehung.“ Frank ist verzweifelt, und deshalb sucht er unparteiischen Rat. Der wird ihm zuteil: Nach knapp 20 Minuten hat seine Frau erkannt, dass sie an ihrem neuen Arbeitsplatz und von ihrem scheinbar so freundlichen Kollegen nur ausgenutzt wird. Sie findet auf den rechten Weg zurück. Ihr Mann muss ebenfalls noch an sich arbeiten: „Übernehmen Sie auch Tätigkeiten im Haushalt“, wird Frank ins Stammbuch geschrieben. Er nickt einsichtig. Alle Beteiligten sind zufrieden.

Wenn sich nur alle menschlichen Probleme so leicht lösen ließen. Manchmal ist tiefer Schmerz jedoch leider nicht vermeidbar. So wird Rosa gewiss lange brauchen, bis sie den Schock über die Erkenntnis verarbeitet hat, weshalb ihre 15-jährige Tochter Lisa keine Lust mehr hat zum Eislaufen: Sie wurde von ihrem Trainer sexuell missbraucht. Zufällig ist dieser Mann auch noch der Lebensgefährte von Rosa. Er hat Lisa gedroht, ihre Mutter umzubringen, falls das Mädchen ihn je verrät. Verständlich, dass dem Kind der Spaß an den Schlittschuhen vergangen ist. Was für ein Konflikt!

Wie gut, dass es Angelika Kallwass gibt. Sie ist eine – echte – Psychologin, die an jedem Werktag auf Sat.1 mehrere – erfundene – Fälle löst, dargestellt von Laienschauspielern. Ob Mutterkomplex oder gestörtes Essverhalten, zwanghafter Ordnungstrieb oder Geschwisterneid: Frau Kallwass schaut hinter jede Maske, entlarvt alle Legenden und spürt noch die verborgensten Motive und frühestkindlichen Traumata auf. In Minutenschnelle. Es ist ganz unbegreiflich, weshalb manche Leute mehrere Monate oder sogar Jahre zum Psychologen rennen. Wo doch Angelika Kallwass zeigt, dass eine erfahrene Seelenklempnerin selbst die komplexesten Probleme im Handumdrehen zu lösen versteht. Ohne Therapie, versteht sich.

Zu der Sendezeit, die heute tiefenpsychologisch gefüllt wird, lief früher Trash-Talk. Dem gegenüber bietet das neue Format Vorteile: Die Laienschauspieler müssen sich an ein Drehbuch halten und sind deshalb meistens viel einsichtiger als die blöden Talkshowgäste. Die beharren oft stur auf ihrer Sicht der Dinge, wenn sie ihre Intimitäten vor einem Massenpublikum ausplaudern. Kein Wunder, dass sich nicht alle Schwierigkeiten innerhalb einer Stunde aus dem Weg räumen lassen, zumal von dieser Stunde ja auch noch die Werbepausen abgehen. Da hat Frau Kallwass es leichter.

Ihre Sendung ist erfolgreich, und erfolgreich sind auch die genreverwandten Sendungen von Barbara Salesch, Ruth Herz und Alexander Holt auf RTL und Sat.1. Die drei sind – echte – Richterinnen und Richter. Sie sprechen Urteile in – erfundenen – Strafrechtsverfahren, Zeugen und Angeklagte werden von Laienschauspielern gegeben. Klingt vertraut, oder?

Weil sich das deutsche Rechtssystem weniger gut für dramatische Inszenierungen eignet als das angelsächsische, hat sich die Dramaturgie zu einer ziemlich radikalen Strafrechtsreform entschlossen. Staatsanwälte sind im Regelfall doof, in jedem Falle aber gegen die Angeklagten. Nix mit unparteiischer Ermittlung. Und Richter haben immer Recht. Was nicht nur daran liegt, dass sie klug sind, sondern auch daran, dass regelmäßig Überraschungszeugen auftauchen, mit deren Hilfe die Wahrheit unweigerlich ans Licht kommt. Wie schön.

Findet jemand diese Sendungen unwichtig? Nicht der Rede wert? Sat.1 hat den Vertrag mit Fernsehrichter Holt gerade bis zum Juli 2003 verlängert. In diesem Jahr haben an jedem Werktag durchschnittlich 2,3 Millionen Zuschauer seine Sendung gesehen. 2,3 Millionen! Zum Vergleich: Die „Tagesthemen“ wurden vorgestern von gerade mal zwei Millionen Zuschauern verfolgt. So viel zum Unterschied zwischen realem und vermutetem Einfluss bestimmter Sendungen auf die Gesellschaft.

Die Reality-Shows sind nicht einfach bloße Unterhaltung. Sie vermitteln Werte – und sie erfüllen Wünsche. Vor allem diesen: Kein innerer Zwiespalt und keine Zwangslage ist so groß, dass sie nicht von einer höheren Autorität zum Wohle aller entschieden werden könnte. Ist die Sehnsucht nach einer Autorität, deren Urteil außer Frage steht, ein besonderes Kennzeichen säkularisierter Gesellschaften? Vielleicht. Eine andere Frage ist weniger schwer zu beantworten: Weshalb nämlich Männer und Frauen, die einen anständigen Beruf wie Psychologin oder Richter gelernt haben, diese Tätigkeit in einer TV-Serie der Lächerlichkeit preisgeben. Auch das sagt manches über das Wertesystem unserer Gesellschaft aus: weil manche Leute halt alles tun, um ins Fernsehen zu kommen.

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