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bernhard pötter über Kinder Das Schweigen aus dem Kinderzimmer

Der Sohn genießt den Urlaub bei Oma und Opa. Die Eltern leiden stumm zu Hause

In Hildesheim hatte ich genug. Ich klappte mein Buch zusammen, sah aus dem Zugfenster und dann zu Anna. „Ich halte das nicht aus. Ich steige jetzt aus und fahre zurück“, sagte ich. Natürlich blieb ich sitzen und fuhr weiter. Immer weiter weg von meinem Sohn, den wir gerade für zwei Wochen bei Oma und Opa abgeliefert hatten. „Reiß dich zusammen“, sagte meine Frau, „so schlimm wird es nicht werden.“

Dabei war sie es doch gewesen, die noch am Vorabend Kidnapperpläne geschmiedet hatte: „Wenn die Zugtüren zugehen, reißen wir Jonas einfach Oma aus dem Arm und nehmen ihn wieder mit.“ Das hatte sie gesagt, und ich war Feuer und Flamme gewesen. Doch als es dann so weit war, versagten wir beide jämmerlich.

Eltern im Ausnahmezustand. Seit drei Jahren kreist unser Dasein um den Nachwuchs. Dann fährt er in den Urlaub und unser Leben gerät aus den Fugen. Schon die ICE-Fahrt zurück nach Hause ist eine neue alte Erfahrung. Niemand krümelt mir honiggesüßte Tierkekse auf den Schoß, niemand zerrt unter dem Sitz an Annas Schuhen, niemand klemmt sich die Hände in den automatischen Türen. Wir lehnen uns zurück und genießen die Ruhe. Aaaah, wie haben wir das vermisst! Ein Leben als Individuum, nicht nur als Erzeuger und Ernährer zu führen. Kino! Kneipe! Konzert! Die süße Erinnerung an Zeiten ohne Klotz am Bein überschwemmt uns.

Zu Hause landen wir dann doch wieder auf der Couch. „Heute Abend gehen wir nicht mehr los“, sagt Anna und döst vor dem Bildschirm ein. Am nächsten Morgen verschlafen wir, weil niemand um kurz vor sechs vor unserem Bett auftaucht und nach warmer Milch verlangt. Auch das Frühstück zieht sich zu lange hin. Schließlich muss man nicht um kurz vor acht mit dem Töpfchen ins Kinderzimmer rennen und um kurz nach acht zum Kindergarten flitzen. Weil der Chef in die Urlaubsplanung meines Kindes eingeweiht ist, zieht auch die beste Ausrede für trödeligen Arbeitsbeginn nicht, etwa: „Jonas kam heute einfach nicht aus dem Bett.“ Das klänge seltsam, wenn er 600 Kilometer entfernt schläft.

„Ihr lasst euer Kind wirklich für zwei Wochen allein?“, fragt entsetzt unsere Freundin Petra. Unser Rabeneltern-Image haben wir uns hart erarbeitet: Den Sohn mit einem Jahr in den Kindergarten abgeschoben, mit zwei Jahren eine Woche mit Oma und Opa allein, jetzt für zwei Wochen in der Kinderlandverschickung. Jonas findet das toll. Von wem sonst kriegt er jeden Tag Schokoladeneis als von der vorigen Generation, die es sich zur Maxime erhoben hat, dass Eltern erziehen müssen und Großeltern verwöhnen dürfen? Am Telefon ist er quietschfidel und erzählt von seinen Abenteuern am Badestrand. Frühe Selbstständigkeit ist gut für Kinder, heißt es in allen Erziehungsberatern. Die Kleinen müssten lernen, dass Mama und Papa weggehen und trotzdem wiederkommen – „das tut den Kindern nur gut“.

Aber den Eltern? Die müssen ihre Selbstständigkeit auch erst mühsam erlernen und jeden Tag neu behaupten. Unsere Freundin Ulrike bekommt am Telefon von ihrer dreijährigen Tochter Ella zu hören: „Mir gefällt’s bei Oma. Ich komme nicht mehr zurück.“ Und wir müssen ohne Jonas unser gesamtes Leben umstellen: Nachts können wir über den Flur poltern, dafür lohnt ein nächtlicher Abstecher ins Kinderzimmer nicht mehr. Abends gibt es keine Kämpfe ums Schlafengehen. Aber inmitten einer unwägbaren, globalisierten Welt vermisse ich auch den Trost, den mir die allabendlich gleiche Geschichte von Herrn Klaus und der Feuerwehr bietet.

„Mensch, toll, endlich könnt ihr wieder was vom Leben haben“, sagen unsere kinderlosen Freunde. Leben? In unserer freien Zeit genießen wir Arbeitstermine, Reisevorbereitungen, das Renovieren von Kinderzimmer und Bad, die Steuererklärung, das Entrümpeln im Keller oder den Abbau der über die letzten Monate aufgestauten Ämterkorrespondenz. Okay, wir gehen auch mal in die Kneipe, aber die brutale Wahrheit ist: Eltern können gar nicht mehr stillstehen. Wir sind Parentoholics. Wir fühlen uns unwohl, wenn es kein Gesicht zu waschen, keinen Po zu wischen und keine Welt zu erklären gibt. Aber diese Erkenntnis werden wir verdrängen, sobald wir Jonas wieder das Gesicht waschen, den Po wischen und die Welt erklären müssen.

Und, verdammt noch mal, wir vermissen unseren Sohn. Um den Schmerz nicht zu groß werden zu lassen, ist Anna auf eine clevere Idee gekommen. Morgen verbringen wir unseren freien Abend in der Wohnung von Freunden – mit Babysitten.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de

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