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bernhard pötter über KinderDie Entdeckung von „Cheiche“

Plötzlich reden selbst kleine Kinder wie die Bauarbeiter. Scheiße, wo haben sie das bloß her?

Ich hatte das Unglück ja kommen sehen. Die Eisenbahnschienen lagen viel zu nah an dem Fabrikgebäude. Als dann der Lego-Zug aus dem Tunnel kam und das Haus streifte, stürzte der hohe Schornstein aus Vierersteinen mit lautem Knall um. Die Lok mit den zwei Anhängern, auf die ich Castor-Behälter gebaut hatte, fiel vom Gleis. Ich sagte „Ooooch!“. Jonas sagte „Scheiße!“.

Eigentlich sagte er „Cheiche“. Aber ich war trotzdem schockiert. Scheiße, dachte ich, wo hat er das bloß her? „Das sagt man nicht, Jonas, das ist ein blödes Wort“, versuchte ich es dann auf die pädagogische Tour. Jonas verschonte mich mit einer Warum-Frage. Er hatte ja auch etwas viel Besseres gefunden: ein magisches Wort, auf das Papa und Mama auf jeden Fall reagieren.

Und so ging es dann los, Cheiche hier und Cheiche da. Die Kita, das Essen, das Schlafen, die Gummistiefel, der Fahrradsitz – im Zweifel alles shit. Er ruft und singt das Wort bei jeder unpassenden Gelegenheit, vorzugsweise beim Bäcker oder in der U-Bahn, vor aufmerksamem Publikum. Und er grinst dazu wie ein kleiner Teufel. Weil er sieht, wie mein Adrenalinpegel steigt. Denn ich habe nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder ich versuche, ihm das Wort auszureden. Daran scheitere ich wie folgt:

„Ich will das Cheiche-Brot nicht essen!“

„Du sollst das nicht sagen.“

„Was denn?“

„Dieses Wort.“

„Welches?“

„Scheiße.“

„Aber du sagst es doch auch.“

Oder ich versuche, das Wort zu ignorieren. Im Prinzip eine gute Idee. Wären da nicht Erzieherinnen, Großeltern oder Nachbarn, die auf den Tabubruch reagieren und es wahlweise schlimm oder witzig finden. (Ich erinnere mich an den Geburstag einer Freundin, deren dreijähriger Sohn an der Kaffeetafel auftauchte und glücksstrahlend „Kacke, Scheiße, Votze!“ rief. Die Besucher lachten herzlich, die Eltern hatten ein Problem mehr). Ich kann nicht leugnen, dass mich das Fluchen meines Sohnes grandios stört. „Das ist doch völlig klar“, sagt Anna. „Wir durften das als Kinder überhaupt nicht. Und außerdem denken wir, dass Jonas auch mit drei Jahren noch so rein und unschuldig ist, dass er nicht fluchen darf.“ Er sei nun mal in dem Alter, wo er alles aufschnappe, erklärt meine Frau, als wir beim Abendbrot darüber sprechen, und mahnt: „Wir müssen einfach selber mehr aufpassen, was wir sagen.“ Richtig, denke ich. Dann lässt Jonas seinen vollen Jogurtbecher auf den Fußboden klatschen. „Jonas, was soll denn der Scheiß?“, schreie ich.

Vielleicht sollte ich mich nicht so aufregen. Schließlich hat das Wort eine steile Karriere hinter sich. Auf den Regenschirmen steht „Scheißwetter“, auf den Häuserwänden „legal, illegal, scheißegal“. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache erklärt, das Wort sei „für viele Menschen inzwischen neutral“ und sei so wenig ein Tabu wie etwa „geil“. Außerdem gehöre es zur „Literatursprache“, die man auch auf der Bühne hört, auch wenn es noch als „derb“ gelte. Selbst im Deutschen Bundestag kommt man bei Verwendung etwa des Wortes „Scheißpolitik“ mit einer kleinen Rüge davon, vermutet das Präsidium des Hohen Hauses. „Das würde höchstwahrscheinlich als unparlamentarische Äußerung gewertet“, heißt es. Und der Schriftsteller Günter de Bruyn beklagt, das „Einfließen von Vulgärausdrücken aus der Genital-, Sexual- und Fäkalsprache hat die Sprache nicht bereichert, sondern verarmt, weil die Verwendung dieser Stereotypen (wie zum Beispiel das Scheiß- in jeder nur denkbaren Verbindung) die Suche nach dem treffenden Ausdruck erspart.“

Da kann ich Herrn de Bruyn nur Recht geben. Seit der Entdeckung von Cheiche sind Sätze wie „Das will ich nicht“, „Das stört mich“ oder „Damit will ich euch nur ärgern“ nicht mehr zu hören. Cheiche triumphiert. Da habe ich Glück, wenn mich Jonas immerhin „du blöder alter Mann“ nennt, wenn ich ihm die Zähne bürste. Außerdem führt Cheiche bei ihm zu massiven Hörschäden. Sätze wie „Ich will das hier nicht hören“ prallen auf versiegelte Ohrmuscheln.

Manchmal sind geschlossene Gehörgänge bei Jonas allerdings ein Segen. Als wir vor zwei Wochen mit dem Fahrrad unterwegs waren – Jonas im Kindersitz am Lenker –, schnitt uns ein dämlicher weißer Lieferwagen beim Rechtsabbiegen den Weg so ab, dass ich eine Vollbremsung hinlegen musste, um nicht die Hälfte unserer Familie auszurotten. Ungerührt brauste der Rüpel weiter und ich schrie ihm ein „Arschloch!“ hinterher. Das wollte Jonas nun genau wissen: „Papa, wer ist denn dieser Herr Schloch?“

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