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bernhard pötter über KinderDie tückische Botschaft der Nächstenliebe

Ich habe mich an Bettler in der U-Bahn gewöhnt. Aber mein Sohn noch nicht. Das kann peinlich werden

Im letzten Jahr war alles einfach. Jonas war zwei und leicht zu beeindrucken. Am Martinsfest staunte er über den Laternenumzug, über die Kirche voller schreiender Kinder, über die Kekse und über den Esel, der neben dem Altar herumstand. Die Botschaft des Festes war denn auch für meinen Sohn nicht das Verhalten des Heiligen, sondern das Benehmen des Packtiers im Gotteshaus: „Esel Kacka gemacht!“, erzählte er zu Hause aufgeregt.

Ein Jahr später kommen wir so einfach nicht mehr davon. Jetzt weiß unser Sohn, was er von Sankt Martin zu erwarten hat. Beim Laternenumzug hinter dem Pferd, auf dem der verkleidete Martin sitzt, hagelt es dann auch kritische Fragen: „Papa, wo hat der seine Peitsche?“, „Papa, wo sitzt denn der Bettler?“, „Papa, warum liegt denn hier kein Schnee?“. Die anderen Kinder trotten brav dem Pferdehintern nach. Die anderen Eltern gucken schon. Glotzt nur, denke ich, da seht ihr mal, wie man ein Kind zu kritischer Aufmerksamkeit erzieht. Und dann sage ich: „Jonas, jetzt halt mal die Klappe und pass auf, dass deine Laterne nicht Feuer fängt.“

Das passiert dann später bei einem Kind neben uns. Interessiert schauen wir zu, wie die Mutter erfolglos versucht, das Feuer zu löschen. Beim Martinskuchen langt mein Sohn zweimal zu. Neben einer leichten Übelkeit hat der Abend auch noch andere Konsequenzen: Zu Hause probiert Jonas mit seinem Holzschwert („ratsch! und ratsch!“), wie Sankt Martin das Badehandtuch zu zerteilen, um es den Armen zu geben. Und jeden Abend sitzt er im Bett und singt mit Inbrunst das Lied von dem römischen Soldaten Martin, der seinen Mantel teilt und den Bettler vor dem Erfrieren rettet.

Das dicke Ende aber kommt ein paar Tage später. Wir sitzen in der U-Bahn. Die Tür geht auf, herein stolpert ein Zausel mit Gitarre und barfuß in Sandalen. Nach kurzem Geschrammel auf dem Instrument fängt der Mann mit dem Geldsammeln an. „Papa, ist der Mann arm?“ fragt Jonas mich mit seiner durchdringenden Stimme. „Ääähhhh, jaaaa“, sage ich. „Armen Leuten muss man doch helfen, wie Sankt Martin“, sagt mein Sohn und schaut mich mit seinem unschuldigsten Augenaufschlag an. „Gib dem Mann doch ein Geld.“ – „Ich hab gerade nichts bei mir“, lüge ich meinen Sohn an. Der Barde steigt aus, ein Hund steigt ein, Jonas ist abgelenkt. Ich bin gerettet. Erst einmal.

Seitdem lebe ich in ständiger Angst vor dem nächsten Mal. Da bringt man dem Kind bei, dass man Menschen in Not helfen muss und wenn man über die Bettler in der Straße stolpert, guckt man weg. Für mich habe ich den Umgang mit dem Elend so geregelt, dass ich mal Zeitung lese, mal was gebe und mal den Kopf schüttele. Aber wie vertrete ich diese Art der Nächstenliebe per Zufallsgenerator gegenüber meinem Kind?

„Das ist das gleiche Dilemma, in dem die Kirchen und Hilfsorganisationen seit Jahrhunderten stecken“, sagt meine schlaue Frau. „Einerseits die Hilfe für die aktuelle Not zu predigen und andererseits nicht alles den Armen zu geben, weil sie den Laden zusammenhalten müssen.“ Aber ob es Jonas reicht, ihm zu erzählen, wir bezahlten schließlich Steuern an Gott und Kaiser und von denen würden Sozialhilfe und Suppenküchen finanziert? Würde Sankt Martin den Bettler im Schnee auf die Kleiderkammer der Heilsarmee verweisen?

Ein Kollege schlägt vor, an die niederen Instinkte meines Kindes zu appellieren. Etwa indem ich sage: „Wenn ich dem Mann jetzt die Mark gebe, dann habe ich nichts mehr, um dir später Kekse zu kaufen.“ So ein Vorschlag kann nur von einem Single kommen. Denn das verlagert natürlich meine Seelenqual nur in die zerbrechliche Psyche meines Kindes. Das wäre vielleicht nicht so schlimm – aber vor allem funktionert es nicht. Jonas würde das Geld großherzig den Bedürftigen schenken und trotzdem Zeter und Mordio schreien, wenn es keine Kekse gäbe.

Nein, ich will ehrlich zu meinem Kind sein, habe ich beschlossen. Ich werde ihm erklären, dass man Menschen in Not helfen soll, dass ich aber meine Nächsten nicht immer so liebe, wie ich es eigentlich sollte. Sondern dass mir meine Nächsten manchmal ganz schön auf die Nerven gehen. Dass es also moralische Grundsätze gibt, nach denen man sich richtet, an denen man aber auch immer wieder scheitert. Deshalb hole ich tief Luft, als er mich auf dem Weg zur Kita fragt, „Papa, ist das ein Bettler?“, und auf einen Mann zeigt, der die Müllkästen duchstöbert. Jetzt kommt’s, denke ich und erkläre ihm ausführlich, dass es Leute gibt, die nicht so viel haben wie wir und die sich irgendwie durchschlagen. Und dass es Arme und Reiche gibt und man teilen soll und andererseits auch nicht neidisch sein darf und und und.

„Aha“, sagt mein Sohn und schaut interessiert dem Müllauto hinterher.

Das war’s. Keine Nachfrage. Er akzeptiert das Elend der Welt. Was soll das? Ist er gefühlskalt? Ein knallharter Neoliberaler? Oder bricht die Nächstenliebe nur bei jedem zweiten Bettler aus ihm hervor? Keine Ahnung. Die Zeitbombe Sankt Martin tickt weiter.

Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de

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