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bernhard pötter über Kinder Generation Klangkörper

Wir haben das Auto zum Konzertsaal gemacht. Benjamin Blümchen verwandelt es zu einem Ort der Qual

Ich sage das nicht gern, aber schuld war meine Frau. Mit Kind und Kegel und Kinderwagen hatten wir uns in den geliehenen Škoda gezwängt, um den Kurzurlaub am Meer zu beginnen. Teresa tat, was man von einem Baby erwartet: Sie brüllte und schlief ein, sobald der Motor lief. Jonas saß festgezurrt wie ein Astronaut im Kindersitz und schrie, sobald die Gurte zuschnappten: „Kassette!“ Und Anna beugte sich über die Tonträger, die unsere Freunde neben der Gangschaltung liegen hatten, und zeigte sie ihm: „Willst du Benjamin Blümchen hören?“

Der Terror begann.

Gegen die Deutsche Bahn AG lässt sich vieles sagen. Sie nennt ihre Oberschaffner Zugchefs und verwirrt ahnungslose Kinder, die glauben, der Chef sei der Lokführer. Sie stellt die Rolltreppen ab, wenn wir mit dem Kinderwagen kommen. Und sie gibt Handybesitzern im Großraumwagon ein dankbares Publikum für ihre Ergüsse. Aber nie, nie, nie beschallt sie gnadenlos und ohne Ansehen der Person alle Passagiere mit der Erzählung, wie Benjamin Blümchen Feuerwehrmann werden will.

„Tööröööö!“, schallte es durch den Wagen. Die grenzdebile Stimme des kleinen Elefanten erzählte von seinen Abenteuern im Zoo. Da spielt die Feuerwehrkapelle und Bejamin ist begeistert von den Uniformen und will zur Feuerwehr – aber er ist ja ein Elefant und deshalb geht das eigentlich nicht, und die Feuerwehrleute fürchten sich vor ihm und dann nehmen sie ihn doch, und dann brennt es in der Schule und die Leiter klemmt, und Benjamin rettet die Kinder und löscht das Feuer mit seinem Rüssel, weil auch die Pumpe nicht funktioniert, und der Bürgermeister kommt und alle feiern Benjamin, den Held der Stadt, der die Kinder gerettet hat.

Uff.

Gequält starren Anna und ich durch die Windschutzscheibe. Die Geschichte ist seicht wie die Ostsee. Ächzend drehe ich mich um, um den Effekt dieses Audiomülls auf meinen Erstgeborenen abzuschätzen. Sanft lächend lauscht Jonas aufmerksam der Geschichte. Das Kind ist glücklich. Und vor allem ruhig.

Das nämlich ist der wirkliche Sinn der Kassetten. Ähnlich wie im Altersheim die aufmüpfigen Alten werden im Auto die quengelnden Nachkommen fixiert und sediert. Benjamin Blümchen arbeitet als Förster und Leuchtturmwärter, die kleine Hexe Bibi Blocksberg sucht das gestohlene Hexenkraut, Pokémon schlägt Pergamon. Was die Augen der Kinder sanft auf Halbmast sinken lässt, sträubt uns auf den Vordersitzen vor Entsetzen die Nackenhaare.

„Stell dir vor, wenn die Kinder älter werden“, sagt Anna. „Dann wollen sie auch Hanni und Nanni, Fünf Freunde und die Drei Detektive hören.“ Was? Das waren doch alles mal Bücher. Die habe ich ganz in Ruhe gelesen. Und über meine Generation gab es keine vernichtende Pisa-Studie. Aber vor allem habe ich die Klappe gehalten, wenn es im Käfer nach Süden ging. Bei meinen Eltern gab es ja noch nicht mal ein richtiges Autoradio.

Das ist nun der Fluch der Generation Golf. Schließlich haben wir das Automobil zum Soundroom umgestaltet. Sind mit dem Passat, drei Tankfüllungen und dem Gesamtwerk von Pink Floyd nach Südfrankreich gerauscht. Haben die Monotonie der nächtlichen Transitstrecke durch die DDR im VW-Bus nur mit dem Fünffachalbum Springsteen ertragen. Singen nicht mehr in der Badewanne (weil wir duschen), sondern nachts auf der Stadtautobahn.

Und für dieses Gefühl nehmen wir jede Menge Gefahren in Kauf. Musik beim Autofahren erhöht in brenzligen Situationen deutlich die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls und senkt das Reaktionsvermögen, haben Musikwissenschaftler der Uni Dortmund herausgefunden. „Im Gehirn kommt es zum Informationsstau“, heißt es da. Auch Wortbeiträge, die uns stören, verringern unsere Aufmerksamkeit hinterm Steuer.

Aha! Also weg mit dem Getöse von Benjamin Blümchen, schon aus Gründe der Verkehrssicherheit, denke ich. „So, Jonas, jetzt haben wir deine Kassette gehört, jetzt brauchen wir wieder ein bisschen Ruhe zum Autofahren“, sage ich, als Benjamin Blümchen zum wiederholten Mal als Held gefeiert wird und das Band zu einem Ende kommt. Das stößt aber auf heftigen Widerspruch des Audiomonsters auf dem Rücksitz. Jonas nörgelt und quengelt und schluchzt und trampelt mit seinen Füßen auf Annas Rückenlehne herum. Teresa wacht auf, erfasst die Situation mit einem Blick und startet ihr Sirenengeheul. Im Nu hat sich der Škoda in einen nervtötenden rollenden Klangkörper verwandelt. Uuups, und fast hätte Anna beim Ausscheren den Raser nicht gesehen, der an uns vorbeizischt.

„Das geht so nicht“, sagt die Wagenlenkerin. Mit lautem Seufzen schiebe ich die Abenteuer von Benjamin Blümchen wieder in das Kassettendeck – „Töörööö!“ – und sehne mich nach dem Handygebimmel im ICE.

Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de

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