berliner szenen: Der Berlin-Mitte-Sundowner
Eingequetscht zwischen SUVs stehe ich mit meinem Fahrrad auf der Linienstraße in Berlin-Mitte, die an diesem Nachmittag wegen einer Umleitung alles, nur keine Fahrradstraße ist. Entnervt weiche ich auf den Bürgersteig aus und erinnere mich, warum ich so ungern in Mitte bin: als Neuköllnerin im Dauerprekariat macht demonstrativ zur Schau gestellter Wohlstand einfach keinen Spaß. Alle paar Jahre fahre ich trotzdem her und zementiere meine Vorurteile bei einem Aperitivo in der „Mozzarella-Bar“ – ein Vorschlag, der nur von einer Prenzlauer-Berg-Freundin stammen kann. Und so sitze ich nun mit mir unbekannten Menschen zusammengepfercht an einem Vierertisch und höre die Luxusprobleme von einem Sonnyboy in weißem Leinenoutfit und seiner Bekannten mit: Sonnyboy hat sich getrennt und die gemeinsam mit seiner Ex unterhaltene Eigentumswohnung vermietet nun „Wunderflats“. „Die machen wirklich alles, behalten aber auch 20 Prozent. Ist aber kein Problem, weil der Pizzaofen und der Weber-Grill werten die Wohnung ja auch noch mal auf.“ Ein Kellner tischt Antipasti auf. Burrata, Caponata und geräucherter Mozzarella lösen bei den Connaisseurs ähnliche Begeisterungsstürme wie das „Sisyphos“-Opening-Event aus, von dem die beiden, wie auch die Expats hinter mir, in erhabensten Tönen sinnieren. Sonnyboy will am Sonntag wieder hin: „Wir fangen um zwölf Uhr an: die neue Wohnung einweihen“, er grinst: „aka Ballern und Brunch.“ „Warum so früh?!“, fragt seine Bekannte und Sonnyboy feixt: „weil wir es kaum abwarten können, Drogen zu nehmen. Apropos: Hast du von Katja gehört? 1.000 Euro muss sie zahlen!“ Die genannte Summe löst bei seiner Bekannten keine Emotionen aus: „1.000 Euro? Ach! Das geht doch noch! Für 1,6 Promille auf dem Fahrrad …“
Marielle Kreienborg
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