berliner szenen: Mühsam von der Matte
Aus gegebenem Anlass bin ich derzeit Teil einer Reha-Gruppe. Zweimal in der Woche treffe ich auf andere Behandlungsbedürftige, die sich an Laufbändern und Sprossenwänden abmühen und auf Bodenmatten allerlei gymnastisches Ungemach erdulden. Ich habe noch nie mit gestreckten Beinen meine Fußspitzen berühren können und spüre auch jetzt keinerlei Ehrgeiz, es zu tun. Halbherzig lasse ich die Arme in Richtung Boden baumeln. Der junge Trainer grinst mich an: „Aha, noch ein Leistungsträger!“ und führt vor, dass er mit der flachen Hand den Boden erreichen kann. Vermutlich kann er auch noch seinen großen Zeh in den Mund stecken. Der junge Arzt am Fenster überlegt, ob er mal meinen Puls messen sollte.
In den Pausen zwischen den Foltereinheiten reden die Reha-Männer über Fußball, die Reha-Frauen über Enkel. Als ich leise Sehnsucht nach einer Zigarette äußere, schaut Frau M. von ihrer Enkel-Galerie im Handy hoch und weist mich streng darauf hin, wie schädlich Rauchen sei. Sie hat mich unter ihre Fittiche genommen. Wenn ich wiederholt Fehler mache, etwa auf dieser Wackelplatte, auf der man einbeinig Balance halten muss, erklärt sie mir, dass ich falschrum stehe. Als ich beim Abschied von Trainer Joshua eine Flasche Sekt mitbringe, schimpft sie: „Bei uns gibt es nur alkoholfreien Sekt!“
Sie schaut mitleidig zu, wenn mir bei den Sit-ups mein Bauch ein ganz klein wenig im Weg ist. Als ich mich mal wieder mühsam vom Boden hochstemme, erzählt Frau M. von ihrem beleibten Hausarzt. „Der hat keinerlei Alkohol mehr getrunken. Und hat sich nur noch vegan ernährt. Nach einem Jahr war der so was von fit und schlank.“ Ich schaue zerknirscht wegen meiner mangelnden Selbstdisziplin. Frau M. beendet ihren Diskurs mit: „Leider ist mein Arzt schon mit 69 Jahren gestorben.“ Peter Lassau
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