berliner szenen: Das Rätsel im Guckkasten
Zur Zwischenmiete hab ich mal in einer alten Sauerkrautfabrik gewohnt. Eventuell war’s auch eine Einlegefabrik für Gurken, bei so vielen Zwischenmieten ist mir das entfallen.
Kürzlich kam ich durch Zufall dort vorbei. Und erinnerte mich urplötzlich an einen Nachbarn, Luftlinie etwa zehn Meter vis-à-vis übern Hof, selbe Etage. Dieser junge Mann verbrachte täglich, oder sagen wir lieber nächtlich, zwei Stunden mit – ja, womit eigentlich? Das fragte ich mich die gesamten drei Monate meiner Zwischenmiete. Jeden Abend um zwölf Uhr begann das Schauspiel. Während ich in meiner Küche Schlafmilch trank, taumelte mein Blick müd hinaus in die Nacht und blieb immer am einzig noch erleuchteten Fensterchen des Seitenflügels hängen. Drin stand ein Mann und kam zwei Stunden einfach nicht vom Fleck. Seine Füße, die ich nicht sah, mussten im Ausfallschritt zementiert sein, und so schien er vergebens zu versuchen, voranzukommen. Mit entblößtem Oberkörper wippte er vor und zurück, arrhythmisch, unaufhörlich.
Ein Fußballer mit Widerstandsband um die Hüften? Ein Spinner? Eine milchbedingte Halluzination? Ich konnte ihn nicht fragen, denn tagsüber bin ich ihm nie begegnet, bedingt wohl durch die typischen Umbauten bezüglich Ausgängen, Dienstbotentreppen, Hofaufteilung. Nachts aber war auf ihn Verlass, da leuchtete das Schau-, das eher ein Vexierspiel war, im Guckkasten.
Seit ich fortgezogen war, hab ich nicht mehr dran gedacht. Nun aber, bereichert um die Erfahrung eines doppelten, langwierigen Bänderrisses samt Physiotherapie, fiel’s mir beim Vorübergehen wie Schuppen von den Augen: Während ich schläfrig Honigmilch schlürfte, hatte der gute Mann jede Nacht sein verletztes Sprunggelenk trainiert. So eifrig, als gäb’s kein Morgen mehr.
Felix Primus
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