berliner szenen: Durch das Gewitter aus Flocken
Eine Coronawelle schwappt wieder über die Stadt. Als Freiberufler spürt man das sofort. Die Aufnahme für einen Podcast wird kurzfristig abgesagt – jemand hat Corona. Ein Zoommeeting mutiert zu einem raschen Telefonat mit einer ungewohnten scheppernden Stimme. Zu meinem Seminar in der Humboldt-Universität erscheinen nur vier Leute. Der Rest entschuldigt sich – selbst krank oder Kinder mit Fieber.
Ich fahre zurück in den Süden der Stadt. Vertieft in ein Buch, das ich schon lange hätte lesen sollen. Für irgendeine Jury, die darüber urteilt, oder ein Gutachten für einen Übersetzungszuschuss. Es fängt mir an zu gefallen und ich vergesse den Ausstieg. Priesterweg flötet die S-Bahn-Durchsage aufdringlich. Zu weit gefahren, denke ich und schieße aus dem Sitz durch die sich gerade schließenden Türen.
Ich stehe im Schneegestöber. Diesem verzaubernden Flockengewitter, das sogar bis in den Gängen unter den Gleisen tanzt. Ich fahre nicht auf dem gegenüberliegenden Perron zurück, sondern betrete den Park am Südgelände. Frischer Schnee, nur durchfurcht von zwei Fährten, der engen Spur eines Schlittens und dem Reifenabdruck eines motorisierten Gefährts. Ich passiere einen ehemaligen Tunnel unter dem Bahnhofsareal, die Wände vollgesprüht mit frischen Graffiti.
Ich stapfe gen Norden. Plötzlich höre ich hinter mir ein pflügendes Geräusch und springe zur Seite. Der Parkranger hält in seinem Minicar direkt neben mir. Haben Sie eine Eintrittskarte? Ich muss nachlösen. Wo wollen Sie hin, fragt er? So schnell wie möglich zum Ausgang? Wir schließen um 16 Uhr, sagt er, das schaffen Sie noch, und braust an mir vorbei.
Ich stehe auf der Metallbrücke am nördlichen Ausgang des Südgeländes. Die Sonne liegt schon wie ein Eidotter über dem piefigen Friedenau. Die Kälte kriecht mir langsam, aber sicher von den Füßen ins Genick.
Timo Berger
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