berliner szenen: Keine Zeitung verkauft
Am frühen Abend ist es sehr voll in der S1. Menschen in Anzügen und anderen Büroklamotten versuchen nach der Arbeit, einen halben Meter Privatsphäre zu finden, und starren in ihre Handys. Ein obdachloser Mann läuft durch die Reihen. Er hält einen Stapel der Motz im Arm und schimpft laut und aggressiv.
„Ich habe heute keine Zeitung verkauft“, ruft er. „Keine einzige! Ihr fahrt in eure warmen Wohnungen und gebt mir noch nicht mal einen Euro.“ Er flucht und wird immer lauter, während er sich seinen Weg durch die Reihen bahnt. Die Leute machen ihm Platz und sehen ihn irritiert bis genervt an. Er trägt keine Jacke, nur einen schmutzigen Pullover, und er ist außer sich. Er hat so recht, denke ich beschämt und sehe das auch in den Gesichtern der anderen um mich herum. In meiner Manteltasche finde ich noch 70 Cent. Gleichzeitig traue ich mich grad nicht, ihm diese zu geben. Er ist so wütend. Einer Frau geht es vielleicht ähnlich. Sie kramt in ihrer Handtasche. Der Mann bleibt vor ihr stehen: „Geben Sie mir jetzt was?“
Sie sagt erschreckt: „Ich überlege es mir noch.“
Das bringt ihn völlig in Rage: „Sie überlegt es sich noch. Fährt in ihre warme Wohnung und überlegt, ob sie was geben will!“, schimpft er weiter und steigt wie ich an der nächsten Station aus. Dort läuft er auf den Fahrstuhl zu, aber am Ausgang treffe ich wieder auf ihn und jetzt traue ich mich.
„Hier“, sage ich und gebe ihm die 70 Cent. „Sie haben recht.“
Er guckt mich nicht an, stattdessen in seine Hand.
„Tut mir leid“, sage ich. Ich weiß nicht, wofür ich mich entschuldige. Es ist nur ein Gefühl. Er sieht hoch und guckt mich an und dann sagt er etwas ruhiger: „Schon ok, danke.“
Dann dreht er sich um und geht zu seinem Fahrrad. Und ich gehe in meine warme Wohnung. Isobel Markus
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