berliner szenen: Die Zeit, die wir noch haben
Ich hole für meine Großmutter Rezepte bei ihrem Hausarzt ab. Die Schlange dort reicht die halbe Treppe herunter. Die Leute vor mir wirken, als ob sie schon länger warten, und sehen etwas genervt aus. Ich stelle mich also auf eine längere Wartezeit ein und gehe noch einmal die Liste in meinem Handy durch. Wir wollen Spendenpakete für ukrainische Flüchtende packen und neben Decken und Hygieneartikeln für Frauen sowie Windeln fällt meiner Tochter noch ein, dass man Müsliriegel kaufen könnte, die verderben immerhin nicht so schnell.
Eine kleine alte Dame in einem dunklen Mäntelchen mit einem Hütchen, das oben eine Schnecke bildet, steht in der Reihe zwei vor mir und brubbelt die ganze Zeit in ihre Maske: „Immer das Gleiche, immer dieses Warten. Ich krieg hier ja noch Wurzeln!“ Ein großer Mann mittleren Alters, der ungefähr doppelt so groß ist wie die kleine alte Frau, dreht sich zu ihr um und sagt: „Na na.“
„Ich krieg hier Wurzeln“, ruft sie noch einmal empört. Sie rollt das r und irgendwie klingt es so niedlich, dass nur noch fehlt, dass sie mit dem Fuß aufstampft. „Sie kriegen hier keine Wurzeln“, sagt der Mann, schaut sie an und sagt: „Sie haben doch Zeit, wieso die Hektik?“
„Ich habe Zeit?“, ruft die Frau da aufgebracht. „Ich habe Zeit? Na, hören Sie mal, haben Sie mich mal angeguckt? Ich bin 85 Jahre alt! Und da soll noch einer Zeit haben?“
Der Mann schmunzelt und sagt: „Ich meinte eher Zeit in Ihrem Tag.“ „Junger Mann, wir wissen alle nicht, wie viel Zeit wir noch haben. Und das bisschen, was wir haben, müssen wir jetzt noch besser ausnutzen.“ Sie nickt bestimmt und setzt nach: „Und nicht hier in der Schlange versauern.“ Der Mann ist still. Er nickt. Und ich finde, dass uns solche Sätze zurzeit noch nachdenklicher machen als ohnehin schon.
Isobel Markus
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