berliner szenen: Das Ende ist nah. Rettet euch!
Als ich die Rolltreppe hochkomme, steht auf dem S-Bahnhof Schöneberg eine Frau in Filzpantoffeln und ruft durch eine gerollte Zeitung wie durch ein Megafon. Sie hat ihre Maske unter dem Kinn, schlurft recht nah an der Bahnsteigkante auf und ab und ruft: „Das Ende ist nah! Rettet euch! Rettet euer Leben!“
Sie ist laut. So laut, dass die Tauben aufgehört haben zu gurren. Ihre Stimme hallt zwischen den Pfeilern des Daches. Sie ruft es immer wieder. Die Umstehenden ignorieren sie hartnäckig mit gleichgültigen Gesichtern. Ich schaue verstohlen unter meinem Pony hervor.
„Auch du musst dich retten!“, ruft sie einem etwa 18-Jährigen zu, der auf sein Handy starrt und mühsam versucht, nicht aufzusehen. Sie geht näher zu ihm, und er sieht ängstlich aus. „Hörst du mich?“ Keine Reaktion.
Sie steht direkt vor ihm und brüllt durch die Zeitung in sein Gesicht: „Rette dich, solang du kannst!“
Jetzt sieht er doch hoch, und plötzlich sehe ich, dass er nicht ängstlich ist. Er ist wütend. Seine Augen sind Schlitze über der Maske. Er fängt an zurückzubrüllen: „Haun Sie ab! Haun Sie ab, und hören Sie auf, hier rumzubrüllen! Es ist alles schon schlimm genug!“ Er ist außer sich. Seine Hand zittert.
Dann holt er Luft und brüllt noch mal, so laut er kann: „Und setzen Sie ihre beschissene Maske auf, verdammt noch mal; das rettet Sie vielleicht!“
Die Frau steht ruhig da. Sie sieht aus, als hätte sie nicht erwartet, dass ihr mal jemand antwortet. Sie hebt die Hand mit der Zeitung kurz hoch und sagt: „Ich weiß ja, Junge. Ist gut. Ist gut.“ Dann dreht sie sich um und verlässt den Bahnsteig, als wäre nichts geschehen. Danach ist alles wie immer. Der 18-Jährige starrt wieder auf sein Handy, die Umstehenden haben gleichgültige Gesichter, und die Tauben gurren wieder. Isobel Markus
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