berliner szenen: Krach kann man ausblenden
In der Matthäus-Kirche am Kulturforum sitzt am Nachmittag ein Mann und liest. Ab und zu spricht er leise Richtung Brust, so als hätte er ein Telefon vor sich, aber vielleicht muss er auch kurz etwas mit sich selbst besprechen. Weiter hinten hat eine Frau mit roter Pudelmütze Platz genommen. Sie hält den Kopf starr Richtung Altar und guckt auf eines der Fotos, die der Künstler Andreas Mühe hier ausstellt. Ab und zu öffnet sich die Kirchentür. Besucher kommen, meist paarweise, um sich die Fotos anzusehen. Mühe hat Menschen fotografiert, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl radioaktiven Schutt beseitigt haben. Auf diesen Bildern zeigt er sie stark verfremdet, manche ohne Kopf.
Dass in der Kirche trotzdem eine friedliche Atmosphäre herrscht, liegt an einer Klavierspielerin. Sie spielt für sich, nicht für die wenigen Anwesenden. Die Frau mit der Pudelmütze bewegt die Schultern – vielleicht zum Rhythmus der Musik, vielleicht weint sie auch.
Mittendrin rücken Handwerker mit scheppernden Geräuschen eine Leiter hin und her. Ihr Handy klingelt mit quäkender Melodie, mehrfach und so laut, als müsste es sich von Baustellenlärm abheben. Als die Klavierspielerin aufhört, steht auch die Frau mit der Pudelmütze auf. Im Vorbeigehen bedankt sie sich für die unerwartete Livemusik. Die Musikerin fragt die Frau, ob ihr die Bilder auf die Dauer nicht unheimlich waren. Nein, gar nicht, sie wollte einfach nur ruhig hier sitzen.
Sie sei auch kein religiöser Mensch, sie wollte ihrer Freundin nahe sein. Die sei jeden Sonntagabend zum Gottesdienst hergekommen. Jetzt ist sie gestorben. Corona. Und die Handwerker mit dem Krach? Der hat sie nicht gestört. Schlimm fand sie, als jemand die dicken Altarkerzen gelöscht hat. Immerhin brannten noch drei Teelichte. Claudia Ingenhoven
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