berliner szenen: Am Autobriefkasten
Hupkonzert
Kürzlich wäre ich beim Versuch, einen Brief in den Briefkasten zu werfen, beinahe überfahren worden. Von einer etwa 72-jährigen Oma in einem roten Polo. Das war in Schöneberg in der Goltzstraße, und zwar in dem Abschnitt, wo sie als Einbahnstraße einspurig neben dem Winterfeldtplatz verläuft. Da ich auf der Fahrbahn stand, wäre es meine Schuld gewesen. Zu meiner Verteidigung möchte ich allerdings anfügen, dass das die einzige Möglichkeit darstellt, in diesen Briefkasten Post einzuwerfen. Es handelt sich hier nämlich um einen Autobriefkasten; seine Briefschlitze sind nicht wie üblichdem Trottoir, sondern der Fahrbahn zugewandt.
Wahrscheinlich entstammt dieser gelbe Kasten einem ehemaligen Masterplan, aus Berlin eine verkehrsgerechte, glitzernde Metropole zu machen; irgendwie amerikanisch halt. Nur dass seine Benutzung für Fußgänger nicht zu empfehlen ist – und Autofahrer ihn nie benutzen. Wer fährt schon mit einem Brief in der Hand solange durch die Stadt, bis er einen Autobriefkasten entdeckt? Kein Mensch tut das. Und die paar Anwohner, die um seine Existenz wissen, mailen wahrscheinlich sowieso mittlerweile.
Ein einziges Mal konnte ich beobachten, wie der Briefkasten ordnungsgemäß benutzt wurde. Eine Frau in einem Kleinwagen hielt an, kurbelte das Fenster herunter und warf einen Brief ein. Das nachfolgende Fahrzeug war so überrascht, dass es beinahe zu einem Auffahrunfall gekommen wäre. Da der Briefeinwurf etwas Zeit in Anspruch nahm – die Dame hatte nicht nah genug am Briefkasten geparkt und musste den Brief mit ausgestrecktem Arm und zitternden Fingerspitzen in den Schlitz jonglieren –, erhob sich von den hinter ihr wartenden Autos eines dieser fröhlichen Berliner Hupkonzerte.
Gern würde ich jetzt noch schreiben, dass wir uns darauf vielsagend anguckten, der Briefkasten und ich, aber das kann ich leider nicht. Denn ich stand auf dem Fußweg, und der Briefkasten drehte mir seinen Rücken zu. drk
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