berliner szenen: Berliner Verkehr
Schreien hilft
Berlin ist eine romantische Stadt. Alles ist geordnet wie in einem Dorf. Es gibt ein Zentrum – o.k., es gibt viele Zentren. Und es gibt – logo – den zentralen Platz, auf dem anstelle der Dorfeiche eine Imbissbude mit Fahrradständer steht. Drumherum spielt sich das Dorfleben ab. Der Kolonialwarenladen heißt Domäne oder Hertie, die Jugend fährt Rad und schreit, und auf der Bank sitzt der obligatorische alte Mann. Wie gesagt, Berlin ist eine romantische Stadt und ist Dorf um Dorf um Dorf. Dennoch lebt es sich zwar romantisch in Berlin, es arbeitet sich aber gar nicht so. Man schuftet in Brutstätten der Entfremdung, müht sich an Stanzmaschinen, Computerbildschirmen oder Turntables und wird müde, abgeschlafft und schließlich aggressiv. Dann kommt man in den Kiez, der Alte sitzt da, die Jugend schreit, und es gibt nichts zum Abreagieren. Der gemütliche Dorfplatz ist zwar da, doch kennt man seine Nachbarn nicht, weswegen man nicht klammheimlich Grenzsteine verschieben kann. Man bleibt im Dorf mit seiner Aggression allein. Allein. Allein. Grrr.
Gott sei Dank jedoch gibt es Straßen. Straßen, die bevölkert sind von Unbekannten, die alle eines gemeinsam haben: Sie fahren Auto wie auf dem Dorf. Doch kennt das Dorf keine Staus, und eine Ampel gibt es auch nur, damit der alte Mann abends nach Hause gehen kann. Hier aber, und da erst wird Berlin zur Stadt, fahren alle drauflos und können es nicht, weil sie alle drauflos fahren wollen und folglich keiner fährt. Da hilft nur Schreien! Schreien! Und schon sind alle Aggressionen heraus. Man kommt heim auf den Kiezplatz und setzt sich neben den Alten. Berlin bleibt eine gemütliche Stadt. Berlin hat Verkehr. JÖRG SUNDERMEIER
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