berliner szenen: Zweite Bürgerpflicht
Nie wieder
Am Anfang stand eine Bankrotterklärung. Das Theater, das sich gerne als den letzten Ort der lebendigen Zusammenkunft der säkularisierten Gesellschaft beschreibt und den Verlautbarungen nach nichts lieber tut, als Widersprüche zu thematisieren, traute sich selber nicht mehr.
Der 11. September fiel in Berlin in die Woche des Saisonstarts. Gerüchte über Premierenabsagen kursierten, doch dann wurde die Theatersaison wie geplant am 14. vom Maxim Gorki Theater eröffnet. Fast wie geplant: Neben der Premiere im Haus wurde außen eine Klanginstallation von Penelope Wehrli gezeigt, die vor Wochen erdacht, nun aber nach einer Eskalation in der Kantine um ihr optisches Element reduziert wurde.
Penelope Wehrli hatte geplant, arabische Schriftzeichen auf die Fassade des Theaters zu projizieren. Ein persisches Liebesgedicht aus dem 12. Jahrhundert. Übersetzungen auf Handzetteln waren angefertigt. Egal – die Kantine und der Intendant hatten entschieden: Die Kategorien von „gut“ und „böse“ durften nicht in schändlichste Verwirrung geraten. Nichts mehr von wegen Widersprüche aushalten. Oder gar Nathan dem Weisen lauschen. Von Bob Geldorf zu lernen ist einfacher. Stella-Entertainment hat umgehend den „weltweit ersten eigens komponierten Song für die Opfer der Anschläge“ komponieren lassen, wie die Pressemitteilung nicht ohne Stolz vermerkt.. Nach „We are the World“ und „Nackt im Wind“ singt nun das „Glöckner von Notre Dame“-Ensemble „Never again“, „ein Bekenntnis für den Frieden, das unter die Haut geht“.
Ebenso unoriginell – wobei Originalität angesichts des Terrors auch nicht die erste Bürgerpflicht ist –, aber schnell und gut gemeint reagierte das Berliner Ensemble. Bereits am 12. September wurde dort beschlossen, die Einnahmen der ersten drei Vorstellungen von Hochhuths „Der Stellvertreter“ an die Opfer zu spenden. Die Schaubühne beraumte als erstes Theater eine Auseinandersetzung mit dem Thema an und lud Soziologen und Orientalisten zur Diskussion (siehe Artikel). Die Diskursmaschine Volksbühne organisiert nach selbst attestierten „ersten Lähmungserscheinungen“ eine Veranstaltungsreihe namens „Politik und Verbrechen“, wo demnächst jeweilsmontags um 21 Uhr ein Spezialist zum Thema sprechen soll. Zugesagt haben Navid Kermani, Georg Seeßlen, Boris Groys. Das Deutsche Theater, das gestern die neue Spielzeit unter der Intendanz von Bernd Wilms eröffnete, plant keine außerordentlichen Veranstaltungen.
Der einzig feste Termin, der momentan in den Kalender muss, ist folglich Sonntag, 22.30 Uhr: Da sind „alle Berliner und ihre Gäste“ zur Einspielung von „Never Again“ im Stella-Musical-Theater geladen. Mit etwas Glück legen die Künstler sogar ein glockenhelles „God Bless America“ drauf. Es sänge nicht das Disney-Ensemble, handelte es sich nicht um ein „Lied, das gleichzeitig positiv in die Zukunft blickt“.
Und ein wenig Positives gibt es auch zu berichten: Seit dem 18. wird täglich ab 19 Uhr das persische Liebesgedicht auf die Fassade des Maxim Gorki Theaters projiziert.
CHRISTIANE KÜHL
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