berliner szenen: Lebenserwartungen
Sie singen nie
Ich liebe die stillen Herbstabende in unserem Innenhof. Nur ab und zu dringt das Grölen der Prolos vom Arnimplatz über die Dächer des Milieuschutzgebietes. Die Russen im Erdgeschossatelier hören wieder ihre Marlene-Dietrich-Platten. Es sind größtenteils Bildhauer. Sie singen nie, sie reden überhaupt nur wenig. Alles, was man hört, sind sporadische Trinksprüche und das Klingen der Wodkagläser. Melancholisch blicke ich auf die bröckelnde Fassade. Der Kastanienbaum im Hof sieht auch nicht gut aus. Allgemein gilt ja, dass die Menschen immer länger leben. In einer Werbebroschüre für aktienfinanzierte Rentenmodelle las ich: „Freuen Sie sich über die steigende Lebenserwartung. Sie brauchen keine Angst zu haben, irgendwann einmal vor einem leeren Konto zu stehen.“ Falls man vorher stirbt, bekommt man die eingezahlten Beträge vollständig zurück. Das ist fair, denke ich. Heute sprach ich im Hausflur mit Pawel, einem der Bildhauer aus dem Erdgeschoss. Er sieht aus wie Mitte fünfzig, ist aber nach eigener Aussage erst Anfang zwanzig. Pawel kommt aus Wolgograd, und er hat Humor. „In Russland gibt es ein Sprichwort“, sagte er, „wenn du älter als vierzig bist, und du hast keine Schmerzen, dann bist du tot.“ ANSGAR WARNER
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