berliner szenen : Harry Potter revisited
Durchs Tor nach Cottbus
Ich habe mir Harry Potter anders vorgestellt als im Film. Eher so wie den Jungen, den ich gestern Abend in der U-Bahn sah. Er fiel mir gleich auf, wegen seines seltsamen Aussehens, das man eigentlich als hässlich bezeichnen müsste. Oder als besonders schön in einer außergewöhnlichen, ja fast außerirdischen Weise. Er hatte dichtes, aschblondes Haar, das wie ein Fell seinen Kopf bedeckte und nur gerade so Platz ließ für sein Gesicht und die großen fleischigen Ohren. Er mochte vielleicht acht Jahre alt sein, noch weit entfernt von der Pubertät. Seine Gesichtszüge waren schon sehr ausgeprägt für sein Alter, markant geradezu. Ein Charakterkopf auf einem schmalen Körper. Das Abteil war fast leer, seine Eltern saßen mir schräg gegenüber. Der Vater – ein bärbeißiger Schlägertyp. Die Mutter – eine Matrone mit großem rotem Gesicht. Touristen, wie sich bald herausstellte, aus der tiefsten ostdeutschen Provinz. Als die Mutter eine Frage des Jungen beantwortete mit einem genervten „Hab ich dir schon gesagt?“ und einem kalten Drohen im Unterton, musste ich fast lachen über das Ausmaß ihrer Derbheit. Was für ein Dialekt! Und die Stimme so tief wie die eines Müllkutschers. Aber die Art, in der der Junge unbewegt und mit feinem Lächeln weiter seine Fragen stellte! Mit einem Eigensinn, den er wie einen schützenden, zu groß geratenen Mantel um sich legte. Denn die Derbheit der Mutter entbehrte jeder Herzlichkeit. Beim Halten des Zugs las der Junge den Namen des Bahnhofs: „Kottbusser Tor“. Er fügte hinzu, halb zu den Eltern gewandt, halb zu sich selbst: „Hier könnten wir aussteigen und durch das Tor nach Cottbus gehen. Dann sind wir zu Hause.“ Er lächelte über seinen Witz. Seine Eltern aber schauten verständnislos aus dem Fenster. ILKA SCHAARSCHMIDT
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