berliner szenen: Kursrauschen
Fontane als Blue Chip
Die Baisse hatte mich schwer erwischt: Opas Erbe verschwunden, meine Konten gesperrt, das Depot wertlos und zudem gepfändet, der Vermieter meiner Daytrade-Kabine ließ mich von zwei breitschultrigen Männern suchen. Das süße Leben im Rausch der steigenden Kurse: vorbei. Und schlimmer noch: Online nichts mehr bewegen können. Ein Leben ohne Sinn. Doch das Land Berlin weiß um die schweren Folgen materieller Not und Neige und bietet seit einigen Monaten: VÖBB! Die Berliner Bibliotheken offerieren in ihrem Verbund allen die Möglichkeit, online von zu Hause und öffentlich zugänglichen Rechnern über bis zu 24 Konten zu verfügen. 10 Euro, eine Meldebestätigung und los geht’s. Fontane als Blue Chip. Der Einband bunt und der Autor jung, deutsch und gut gekleidet? Lieber nicht – an Junk Bonds habe ich mir schon mal die Finger verbrannt. Einen Posten Kriminalromane stoße ich mit großem Gewinn ab, Luhmann halte ich noch ein Weilchen. Der hat seinen Höchstwert noch lange nicht erreicht. Vor Ort die neuesten Nachrichten vom Literaturmarkt, jeden Tag neu, am Automaten Kaffee und Kakao, an der Theke Insidertipps für nix. Das Ganze ist nicht ohne Risiko. Ein Fälligkeitsdatum übersehen, da hilft keine Stop- Loss-Order, und es hagelt Strafen pro Tag und Einheit. Die richtigen Experten haben für dieses Treiben natürlich nur ein müdes Lächeln übrig. Sie zocken am StaBiKat. Internationale Ausrichtung, höherer Einsatz, höheres Risiko. Auf dem granitenen Parkett der Staatsbibliothek hat schon manch einer Geist und Gesundheit ruiniert. Andererseits lockt freilich ungleich höherer Gewinn: Wer hier gewieft geistiges Kapital akkumuliert, dem winkt am Ende nicht selten ein Titel.
CARSTEN WÜRMANN
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