piwik no script img

berlin viral„Nix wird mehr gut. Den ganzen Tag zu Hause und nix wird mehr gut“

Derya und ich gehen spazieren, damit wir uns überhaupt mal wieder sehen ohne Bildschirm zwischen uns. Derya hat kleine Kinder, die sie rund um die Uhr bespaßt oder homebeschoolt. „Da kann ich abends gar nichts mehr, verstehst du das?“

Absolut verstehe ich das, stelle aber fest, dass ich grad vor Langeweile eingehe.

Wir wählen unsere Route über die Hauptstraße, nicht wie sonst durch die kleinen Straßen. Die Luft ist kalt und schwer, es riecht nach verbranntem Holz wie im Herbst, die Laternen tragen einen orangefarbenen Kranz aus Licht.

„Ich brauche mal Krach und Leben um mich“, sage ich, „ein bisschen Abenteuer.“

Als wir die Hauptstraße herunterlaufen, sehen wir schon von Weitem eine Frau am Boden liegen. Vor ihr steht eine ältere Dame: „Sie ist gestürzt, aber will sich nicht helfen lassen. Ich will den Krankenwagen rufen und sie weigert sich.“

Die Frau am Boden liegt auf dem Rücken und bewegt das Bein unkontrolliert. Ihre Brille ist verrutscht und sie stöhnt. „Bleiben Sie weg“, ruft sie. „Lassen Sie mich in Ruhe.“ „Können wir jemanden für Sie anrufen?“, frage ich die Frau am Boden. „Nein“, antwortet sie barsch. „Nein, da ist niemand.“

Derya setzt sich ihre Maske auf und sagt zu der Frau: „Ich helfe Ihnen jetzt hoch. Es ist kalt, Sie können hier nicht liegen bleiben.“ „Nein, nein, lassen Sie mich einfach allein“, ruft die Frau.

„Auf keinen Fall“, rufen wir und Derya hilft ihr mühsam auf, bis sie ganz schief an ihr lehnt. „Schaffen Sie es da drüben auf das Mäuerchen vor dem Zaun?“

„Na aber klar“, sagt die Frau entrüstet. Ihre Brille sitzt schief, das Haar steht wirr vom Kopf ab.

Derya macht ein Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Alkohol, frage ich lautlos. Sie zuckt mit den Schultern.

Die Frau sitzt jetzt schief und zusammengesunken auf dem Mäuerchen. Sie sieht blass aus. Aus ihrer Umhängetasche holt sie eine 1,5-Liter-Flasche Fanta und trinkt.

„Wir rufen jetzt die Feuerwehr“, sagt die ältere Dame.

„Ach was“, sagt die Frau und zeigt mit der Fanta die Straße herunter. „Ich will nur nach Hause.“

„Das schaffen Sie so aber nicht.“

„Ich gehe in kein Krankenhaus.“ Sie sagt es trotzig und schiebt sich die Brille zurück auf die Nase, verstaut die Flasche in der Tasche, steht auf und torkelt los, fällt aber nach wenigen Schritten wieder hin. Derya und ich eilen zu ihr.

„Sehen Sie, das schaffen Sie nicht“, ruft die alte Dame und wählt schon die 112. „Alkohol oder Tabletten“, sagt sie in den Hörer.

Wir setzen die Frau erneut auf das Mäuerchen.

Kläglich murmelt sie mehrmals: „Danke schön. Danke schön, das ist sehr nett von Ihnen.“ Derya sagt beruhigend: „Der Krankenwagen wird gleich hier sein.“

Die Frau weint. Lautlos laufen die Tränen über ihre Wangen.

„Es wird alles gut“, murmeln wir hilflos. „Nix wird mehr gut“, sagt die Frau. „Ich sitz den ganzen Tag zu Hause und nix wird wieder gut.“

„Es ist grad einfach eine harte Zeit“, sage ich. Der Krankenwagen kommt. Ein Mann um die 50 und ein junger Fahrer steigen aus. „Guten Abend, die Damen“, sagt der ältere Feuerwehrmann fröhlich, „ist’s nicht ein bisschen kalt für so’n Kaffeekränzchen?“

Dann redet er eindringlich auf die Frau ein: „Wenn Se so gar nich wollen, dann zeigen Se mir mal, wie Se nach Hause loofen wollen.“

Die Frau kommt kaum hoch. „Na sehen Se, dit wird einfach nüscht. Und wenn Se jetzte immer noch nich wollen, muss ick die Kollegen von der Polizei rufen. Die können Sie vielleicht überreden.“ Uns zwinkert er an: „Das schaffen wir hier schon.“

Wir verabschieden uns und wünschen der Frau alles Gute. Als Derya und ich weitergehen, sind wir still. Ein Polizeiwagen fährt mit Blaulicht in die Richtung, aus der wir kommen.

Isobel Markus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen