berlin entlässt kitas: Prinzip Piefke
Freiheit und Strafe
In der Gesellschaftswissenschaft ist das Thema ein Renner: Wie kann der Staat Aufgaben abgeben – und wie wird die Gesellschaft, sprich Vereine, Verbände und Initiativen diese Tätigkeiten aufnehmen? „Staatsquote runter“, heißt das Stichwort bei den Volkswirten. „Zivilgesellschaft stärken“, sagen Kommunitaristen. Auch der Umbau des notorisch bankrotten Landes Berlin gehört hierher – ganz praktisch und sehr eigenwillig.
So nimmt Berlin gerade wieder Anlauf, den Zivilgesellschaftstheoretikern von Etzioni bis Putnam Studienmaterial zu liefern: Das Land entstaatlicht nämlich die Hälfte seiner Kindergärten. Was das heißt? ErzieherInnen sind nicht mehr staatliche Angestellte, sondern werden direkt von ihrer Kita bezahlt. Geld wird nicht mehr nach dem mit Vorschriften gespickten Haushaltsrecht verwaltet, sondern durch die Kitas bzw. ihre Träger. Und es gibt Platz für eine Vielzahl pädagogischer Freiheiten. Kurz: Weniger Staat, mehr private Initiative. So weit der Schritt, der Volkswirte glücklich macht: Der staatliche Sektor schrumpft.
Großes Malheur
Berlin wäre aber nicht Berlin, wenn die Kita-Privatisierung nicht von Verschlechterungen begleitet würde. Vorherrschend ist dabei das Prinzip Piefke – kleine Dummheit verursacht großes Malheur. Auf den ersten Blick ist es ja unbedeutend, ob die Hortschlüssel Ost (1 Erzieherin für 22 Kinder) dem Westen (Bisher 1:16) übergestülpt werden; ob Anspruch auf eine volle Leitungskraft bei 160 Kindern besteht statt bei 100, ob das obligatorische Erzieherpraktikum auf den Personalschlüssel der Kitas angerechnet wird oder nicht. Otto Normalverbraucher versteht das alles nicht einmal – bis er die Auswirkungen zu spüren bekommt. Die aber sind einschneidend.
Der schlechtere Kita-Hortschlüssel etwa führt dazu, dass vielen kleinen Einrichtungen bald die Schließung droht. Denn sie rutschen unter die kritische Größe, die man braucht, um eine Stelle bewilligt zu bekommen. Dass es dabei ausgerechnet die Schülerläden erwischt, also zivilgesellschaftliche Errungenschaften der 70er-Jahre, ist nicht die einzige Ironie der berlinischen Entstaatlichungsvariante. Genauso ist es bei den Kita-Leitungen: Gerade die kleineren Einrichtungen leben von der pädagogischen und managerialen Inspiration ihrer Leiterinnen. Sinkt der zeitmäßige Leitungsanteil, leidet natürlicherweiser das Management – was im Moment der Privatisierung völliger Unsinn ist. Die an die Diakonie, den Paritätischen Wohlfahrtsverband oder die Caritas übertragenen Einrichtung brauchen für ihre Leiter einen Startvorschuss und keine Standardabsenkung.
Die kleine Kita-Katastrophe ist übrigens kein Zufall. Freie Schulen, Hochschulen sowie Treber- und Behindertenprojekte haben die gleichen Erfahrungen gemacht. Die Botschaft, die das Land im Zuge seiner Entstaatlichungen aussendet, sind paradox. Nutzt die Freiheiten, die wir euch geben, heißt sie offiziell. Unter der Hand aber gilt diese Regel: Wer eigenständig sein will, wird bestraft. CHRISTIAN FÜLLER
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