berlin buch boom: Das Grauen konkret fühlbar erzählen
Schwüle Schwitzigkeit
Der Lausitzer Platz in Kreuzberg, heutzutage ein von Punks, Kindern und Leuten aus der Computerbranche bevölkerter Platz, war nicht immer ein bunt gemischter Bestandteil eines durchaus angenehmen Stadtviertels. In den Fünfzigerjahren wohnten hier Arbeiterinnen und Arbeiter, junge Kriegerwitwen und andere Kleinverdiener, die es, wie man damals sagte, „später besser haben“ wollten. Deutsche Kleinbürger. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, hinter dem Mariannenplatz drohte die ihnen völlig unverständliche Zonengrenze. Der Zweite Weltkrieg – und oft die eigene Mittäterschaft – war gerade überlebt, neue Tankstellen öffneten, die USA versorgte Berlin aus der Luft, das Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf. Sie beschimpften die Nachbarn, soffen und hörten Schlagermusik, und waren die Objekte einer Geschichte, auf die man keinen Einfluss nehmen kann. Nichtsdestotrotz äußerten diese Leute im kleinen Kreise immer wieder das, was sie ihre Meinung nannten, jedoch nur aus dem Radio abgehörten Phrasen bestand.
In dieser muffigen Atmosphäre, in der „Adolf“ und seine Lebensgesetze zwar noch permanent präsent waren und die Bevölkerung dennoch niemals nichts falsch gemacht hatte, spielt Jörg W. Gronius Roman „Ein Stück Malheur“. Gronius beschreibt sehr detailgenau eine Nachkriegskindheit, die zwischen Außentoilette und neuem Kühlschrank stattfinden muss – er zeichnet auf, was die Onkel und Tanten sagen, was die Nachbarn sagen, wie die Verwandten aus der „Zone“ reden, er berichtet, was im Haus gemacht werden muss und wie das Kind sich fühlt, wenn es dabei zusehen muss.
Im Falle von Gronius’ Protagonisten ist das eine sehr triste Jugend. Der kleine Junge, der daheim als „Stück Malheur“ behandelt wird, und ganz offensichtlich kein Wunschkind gewesen ist, lebt mit seiner Großmutter mütterlicherseits, seiner Mutter und seinem Vater einer Zweiraumwohnung. Er und die Großmutter schlafen in der Küche, die Eltern in der Stube auf dem klappbaren Sofa. Seinen Vater, der als Tankwart arbeitet, Alkoholiker ist und immer sehr spät nach Hause kommt, sieht der Junge nur selten. Stattdessen ist er in der Obhut der beiden Frauen, die völlig überfordert sind von dem, was sie sich selbst abverlangen.
So muss meistens das Kind für ihre Überforderung und für seine Existenz büßen. Der genau beschriebene wöchentliche Tagesablauf, der aus Saubermachen und dem Kochen von ungenießbaren Speisen besteht, die rituelle Wichtigkeit des Badens (Mutter, Großmutter und Kind nacheinander im gleichenWasser) und zugleich die schwüle Schwitzigkeit, die den Rest der Woche überschattet, rufen in dem Jungen nichts als Ekel hervor. Er gilt, weil er zu intelligent ist und daher ungewöhnliche Fragen stellt, in der Familie als Idiot. Da das Kind sprechen und denken kann, bestrafen ihn jene, die das bereits verlernt haben. So muss das Kind halbe Tage im dunklen Schank eingesperrt verbringen. Und wird einfach nicht dümmer, so ein Ärger aber auch. Doch bis zum Ende seiner Pubertät, das lässt der Roman wissen, hat das Kind keine Chance aus dieser kleinbürgerlichen Welt von Ordnungswahn und Triebstau zu entkommen. Ein beklemmendes Buch.
Jörg W. Gronius schafft es, aus der Perspektive des Kindes zu schreiben, ohne in ein vermeintlich kindliches Sprechen zu verfallen – Gronius benutzt die Sprache der Erwachsenen, um das, was das Kind kaum benennen kann, zu beschreiben. Das ist richtig so, denn jeder kommentierende oder kindlich-naive Schreibstil würde schnell zu Kitsch oder Verklärung führen. So aber hat Gronius einen Roman geschrieben, in dem das Grauen fühlbar ist, da es konkret erzählt wird. Dieser Roman darf – wenn man von einigen sehr wenigen stilistischen Plattheiten absieht – als ein sehr gutes Werk der realistischen Literatur gelten. Mit seiner Hilfe lässt sich das provinzielle Phänomen Westberlin noch besser begreifen.
JÖRG SUNDERMEIER
Jörg W. Gronius: „Ein Stück Malheur“. Weidle Verlag, Bonn, 175 S., 38 DM
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