berlin – szczecin : Der Osten rückt weiter weg
Exoten gibt es zur Genüge: Zum Beispiel den Zug ins sibirische Tomsk. Wer morgens um 9.12 Uhr am Berliner Ostbahnhof abfährt, trifft fünf Tage später nach Umsteigen in Glogow, Leszno, Warszawa, Moskwa Belorusskaja, Ribinsk-Pass, Jaroslawl-Glawni und Taiga in Tomsk 2 ein. Doch das Naheliegende wird bald wegfallen. Zum Fahrplanwechsel am 28. Mai stellt die Bahn AG den Interregio „Mare Balticum“ ein. Der Interregio verließ Berlin-Lichtenberg bislang ab 8.01 Uhr, war um 9.58 Uhr in Szczecin Główny, um 12.50 in Koszalin, um 15.08 in Gdynia, eine halbe Stunde später in Gdańsk und fuhr über Elbląg weiter ins masurische Olsztyn.
Proteste gegen die Streichung der Verbindung hat es genügend gegeben. Tausende von Unterschriften hat zum Beispiel der Fahrgastverband ProBahn gesammelt. Die Bahn AG freilich fühlt sich für den Standort Berlin nicht zuständig, was zählt, ist alleine die betriebswirtschaftliche Rechnung. Und die ist schlecht. An manchen Tagen fahren nicht mehr als 50, manchmal sogar nur 30 Fahrgäste mit dem Interregio. Hinzu kommt, dass die Bahn auf dem polnischen Streckenabschnitt auch nur polnische Tarife verlangen kann. Und die sind um ein Vielfaches billiger als in Deutschland.
Gleichwohl kritisieren sowohl der Fahrgastverband als auch die Berliner Industrie- und Handelskammer, dass die Bahn das Angebot besser hätte verkaufen können. „Es ist versäumt worden, die Verbindung als Alternative zum Straßenverkehr und dem Stau an den Grenzübergängen zu vermarkten“, meint Detlev Lutz von Pro Bahn. Protestieren wollen auch die lokalen Akteure des EU-Programms „Waterfront Urban Development“. In einer Resolution, die an Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt (SPD) und Bahn-Chef Hartmut Mehdorn gerichtet ist, schreiben die Vertreter des Programms aus Berlin, Danzig, Stettin, Elbing, Göteborg, Potsdam, Rostock, Köge und Wasa, dass man mehr attraktive Strecken brauche, um die Wettbewerbsfähigkeit der Ostseeregion zu verbessern. Und bei der IHK in Berlin heißt es, dass man zwar die wirtschaftlichen Überlegungen der Bahn AG akzeptiere, gleichwohl aber glaube, dass es vor allem zwischen Berlin und Stettin ein großes Potenzial gebe.
Das sieht auch Alojzy Tomaszewski so. Der Wirtschaftsvertreter des Bundeslandes Bremen in Danzig war bisher oft mit dem Interregio „Mare Balticum“ zwischen Danzig und Stettin unterwegs. Das ist eine aufstrebende Region, sagt er, gerade wegen ihrer Nähe zu Berlin. Wie Bremen hat auch Schleswig-Holstein ein Wirtschaftsbüro in Danzig, Berlin dagegen nicht.
Nun aber muss man in Angermünde umsteigen, will man nach Stettin. Zur Erinnerung: Nach Leipzig, von Berlin weiter entfernt als Stettin, fährt man in zwei Stunden. Und geradezu rasend schnell ist man mit anderthalb Stunden im 300 Kilometer entfernten Hannover. Zehn Jahre nach der Wende ist in der Drehscheibe Berlin Europa noch ein geteilter Kontinent. Da wundert es nicht, dass ab 28. Mai auch der Nachtzug von Frankfurt/Main nach Krakau eingestellt wird. Und das, obwohl die Stadt im Jahr 2000 zu den europäischen Kulturstädten Europas gehört. UWE RADA
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