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american pieIt’s Time

BASEBALL 67 Jahre lang hat Reporterlegende Vin Scully die Partien der Dodgers kommentiert. Jetzt geht er in Rente

Es war ein dramatischer Sonntagabend im Dodger Stadium zu Los Angeles. Auf dem Platz. Und fast noch ein wenig dramatischer fünf Stockwerke über dem Platz. Unten gewann die heimische Baseball-Mannschaft nicht nur ein schon fast verlorenes Spiel mit einem Homerun in der Verlängerung, sondern sicherte sich mit dem 4:3 gegen die Colorado Rockies auch den Titel in ihrer Division und damit die Qualifikation für die Playoffs. Das Spiel war trotzdem nur Beiwerk. Zierrat für den Abgang einer der beliebtesten Figuren, die der Baseball je gesehen hat: Vin Scully.

Dabei war Scully nie Spieler, nicht einmal Trainer oder Manager. Er saß bloß in der Pressebox, fünf Stockwerke über dem Spielfeld. Aber das dafür seit 1950. Seitdem kommentierte Scully ununterbrochen die Spiele der Dodgers für Radio und Fernsehen. Am Sonntag hatte der 88-Jährige seinen letzten Auftritt bei einem Heimspiel der Dodgers, momentan ist er mit der Mannschaft auf Auswärtsspielreise, am Sonntag folgt das allerletzte Spiel beim großen Rivalen, den San Francisco Giants. Dann geht Scully endgültig in Rente. Nach unglaublichen 67 Jahren.

In diesen 67 Jahren ist Scullys Stimme zum Synonym geworden für Baseball. Und was für eine Stimme das ist: tiefes Timbre, dunkel, aber trotzdem melodisch, unaufgeregt und kompetent. Eine Stimme, die perfekt passte zum Baseball, jenem ruhigen, unaufgeregten Spiel. Eine Stimme, die so ziemlich jeder Amerikaner unter allen anderen erkennen würde. Scully war ein Freund, mit dem man im Sommer während der Baseball-Saison an sonnigen Nachmittagen verabredet war oder an lauschigen Abenden. Oder richtiger: Mit seiner Großonkelstimme war er wie ein Märchenerzähler, mit dem man jeden Tag aufs Neue eintauchte ins wunderlich kindliche Baseballspiel.

Scully war kein moderner Moderator, kein Schreihals, der große Momente hysterisch begrüßte, Scully wusste sogar zu schweigen: Legendäre 103 Sekunden beispielsweise 1974, nachdem der legendäre Hank Aaron den Homerun-Rekord des noch legendäreren Babe Ruth gebrochen hatte. Und ja, Scullys Stimme ist auch eine aus der Vergangenheit, aus den vermeintlich guten alten Zeiten, die nie so waren, wie man sie am liebsten in Erinnerung hat.

Deshalb werden Scully und seine Stimme nicht nur in Los Angeles, sondern im ganzen Land geliebt. Am Sonntag skandierten die 52.000 im Dodger Stadium schon während des Spiels ständig „Vin! Vin! Vin!“ und „Stay! Stay! Stay!“ und erhoben sich mehrmals zu Standing Ovations. Und nach dem dramatischen Ende, als der Jubel über den Sieg verklungen war, wurde die Menge erst richtig laut, als sich Scully für immer von den Fans verabschiedete. „Glaubt mir“, sagte er aus seiner Pressebox hoch über dem Feld, „ich habe euch viel dringender gebraucht als ihr mich. Das ist die Wahrheit.“ Nicht wenige verdrückten ein paar Tränen.

Als Vincent Edward Scully 1950 bei den Dodgers anheuerte, spielten die noch im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Acht Jahre später zog der gebürtige New Yorker mit dem Team um an die Westküste. Dort wurde es üblich, dass die Zuschauer ein Transistorradio mit ins Stadion brachten, um Scullys Radiokommentar zu der Begegnung, die vor ihren Augen ablief, zu hören. „Das war ein wirklich seltsames Phänomen“, erinnert sich der legendäre Dodgers-Pitcher Sandy Koufax, „man war mitten im Spiel und aus den ­Rängen kam der Radiokommentar.“

Zwischenzeitlich moderierte Scully auch Football-Spiele, Golf oder Tennis, sogar eine Zeit lang eine Quizshow, aber seine Liebe gehörte immer dem Baseball. Ungefähr 9.000 Spiele der Dodgers hat er in all den Jahren begleitet, und 9.000 Mal hat er die Übertragung mit demselben Satz begonnen: „It’s time for Dodger baseball!“ Anschließend wünschte er allen, „wo immer Sie gerade auch sein mögen“, einen „angenehmen Abend“. Sätze, die jeder Los Angelino auswendig aufsagen kann. Kein Wunder, dass Hollywood-Drehbuchschreiber sich mit der Namensgebung von „Akte X“-Agentin Dana Scully vor ihm verbeugten.

Natürlich wurde Scully, als er ankündigte, nun doch noch in Rente gehen zu wollen, gefragt, ob er ohne Baseball, ohne die Dodgers überhaupt würde klarkommen werde. Seine fünf Kinder, 16 Enkel und drei Urenkel würden ihn schon auf Trab halten, sagte der alte Mann. Und: „Ich werde versuchen zu leben. Ich suche jetzt nach einem viel kleineren Haus und einem viel größeren Medizinschrank.“

Thomas Winkler

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