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alle wege führen nach romKarneval trifft Politik

Ohne Kamelle

Fast chinesisch muten die schillernden Drachen an, die von dem gigantischen Wagen herunter ihre Hälse in schlängelnder Bewegung zum Publikum recken. Barock kommt dagegen auf dem nächsten Wagen ein zwanzig Meter hoher Ministerpräsident D’Alema daher. Umgeben von Putten präsentiert er sich als etwas diabolisch dreinblickender Papst. Und obwohl er genauso wie die orientalischen Ungetüme nur aus Pappmaché besteht, bewegt er sich mit großer Leichtigkeit, hebt den Arm zum Segen und rollt dabei mit den Augen.

Hunderttausende drängen sich im toskanischen Badeort Viareggio auf der Strandpromenade, um den wohl berühmtesten Karnevalszug Italiens zu sehen. Für kölsche Karnevalisten wäre der Zug wahrscheinlich eine Enttäuschung. Kein Alaaf gibt’s hier, keine Funkenmariechen, keinen Prinz, keine Kamellen und keinen Alkohol. Zugleich aber gibt’s mehr als im Rheinland: Wagen als echte Kunstwerke, die nicht harmlosen Humor bieten, sondern scharfe Satire, die die Schrecken der Gegenwart nicht ausspart.

Allemal besser als das zeitgenössische Theater mit seinen im schlechtesten Sinne „zeitlosen“ Stücken ist der Karneval von Viareggio, meint der Nobelpreisträger Dario Fo. In Viareggio hat man die alte Weisheit von Aristophanes begriffen, dass wahre Satire in der Tragödie wurzelt. Dario Fo ist dieses Jahr selbst mit einem von ihm entworfenen Wagen dabei. Auf den ersten Blick glücklich ist die Szene, die an ein Bühnenbild erinnert. „Calcio in culo“, „Tritt in den Hintern“, heißen in der Lombardei die traditionellen Karussells. Um einen hohen vertikalen Holzpfahl dreht sich ein großes waagerechtes Rad; an seine Speichen klammern sich die Kinder und fliegen jauchzend durch die Luft. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die sich drehenden Puppen verstümmelt sind; dem einen fehlt eine Hand, das andre trägt eine Fuß- oder Beinprothese. Und alle paar Minuten heult eine Sirene auf, wird die Musik von mächtigen Explosionen unterbrochen.

„Es liegt auf der Hand, worum es mir geht“, kommentiert Dario Fo, der in Viareggio begeisterten Applaus bekommt. „Alle 20 Minuten explodiert auf der Welt eine Mine. Und jahrelang haben die Italiener an diesem Geschäft verdient, vorneweg Fiat mit einer seiner Waffenfabriken.“ Von Verantwortlichkeiten spricht auch der von Sergio Staino, einem der berühmtesten Karikaturisten Italiens gestaltete Wagen. Sein Titel: „Sud chiama Nord“, „Süden ruft Norden“. Da thront ein dicker Weißer auf der Weltkugel, vor sich einen Haufen Leckereien. Doch mit ziemlich rabiater Geste zieht ihm ein kleines schwarzes Mädchen die reich gedeckte Tafel weg. Unter den beiden stehen diverse Mülleimer rum. „Da findet sich all das drin, was wir dem Süden bisher beschert haben, Nuklearabfälle, Pestizide, vergammelte Medikamente“, erklärt Staino. „Zugleich tanzen auf dem Wagen dutzende Personen aus den verschiedensten Ethnien – wir wollen ein kleines Signal setzen für eine fröhliche Revolution. Sich über etwas lustig zu machen, ist, glaube ich, eine der ganz wenigen ernsthaften Beschäftigungen geblieben.“ MARINA COLLACI

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