: Zweimal in den selben Fluß steigen?
■ Gorbatschow und die Lehren des Prager Frühlings: Die Absichten Dubceks waren gut - aber er verlor die Kontrolle über die Reformbewegung / Aufgeben der Breschnew–Doktrin bedeutet auch, die Bruderparteien nicht zur Perestroika zu zwingen / SPD–Seminar mit Ex–Reformern aus der CSSR und Umgestaltern aus der UdSSR
Von Christian Semler
Freudenberg (taz) - Wie weit muß die Perestroika gehen, um die Stagnation zu überwinden, aber wie weit kann sie gehen, ohne daß der Partei–Staat die Kontrolle über die in Bewegung geratene Gesellschaft verliert? Thats the question. Der Konflikt um Berg–Karabakh hat einen Vorgeschmack auf die Probleme gegeben, die die sowjetische Zentrale in der Nationalitätenpolitik erwartet. Wie aber stehts mit den kleinen Nationen im westlichen Vorhof der Sowjetunion? Ist es speziell im Fall der CSSR mit Rücksicht auf die Stabilität des Imperiums besser, sich auf die Truppe zu stützen, die durch die Besetzung von 1968 an die Macht gebracht worden ist, oder sollte ein neuer Anfang gemacht werden mit nicht kompromittierten Leuten, oder sollte man vielleicht beides gleichzeitig versuchen? Im Milieu der sowjetischen Expertenstäbe und politischen Forschungsinstitute beginnt das große Umdenken über den Prager Frühling. Gegenwärtiger Stand: Die Absichten der Prager Reformer waren gut, aber irgendwann zwischen Mai und Juli 1968 verloren sie die Übersicht und Kontrolle. Das, so heißt es, darf und wird Gorbatschow nicht passieren. Die Neubewertung des Prager Frühlings hat sich nun bis zum April 1968 durchgefressen, dem Monat, in dem die KP der CSSR ihr Aktionsprogramm verabschiedet hat. Dies ist auch der Grund, warum sich der gegenwärtige ZK–Sekretär Fojtik seiner „bescheidenen Mitarbeit“ an jenem Dokument rühmt. Just dieses Datum in der bereits rehabilitierten Zeitzone hatte sich die SPD ausgesucht, um in der Gustav– Heinemann–Akademie in Freudenberg zu einer Diskussion über den Frühling einzuladen, „der nicht vergangen ist“. Natürlich spielte dabei der Wunsch eine Rolle, den Irritationen entgegenzuwirken, die das lammfromme Auftreten einiger SPD–Staatsmänner in Warschau, Prag und anderswo bei den „Andersdenkenden“ hinterlassen hat. Was aber solche Seminare neuerlich interessant macht, ist ihre Funktion als Testgelände. Die Ex–Reformkommunisten waren in starker Phalanx angetreten. Von der gegenwärtigen Prager Führung ließ sich niemand blicken. Dafür erwies sich der sowjetische Vertreter als umso gewichtiger. Es war Ambarzumow, ebenso weitgereister wie Gorbatschow–naher Professor aus Moskau und vor zwei Jahren schon in den Schlagzeilen wegen eines Interviews zum Prager Frühling in der italienischen Rinascita. Die Einleitungsreferate hielten Ehmke (SPD) und Mlynar, ehemals einer der Sekretäre des ZK der KPTsch. Außer diesen beiden bestritten die Podiumsdiskussion Ambarzumow mit zwei längeren Beiträgen, die Professoren Kosta und von Beyme sowie J. Pelikan, einst Fernsehchef und heute Europa–Parlamentsabgeordneter der PSI. Geleitet wurde das Ganze von Thomas Mayer, dem Promotor der deutsch–deutschen „Streitkultur“. „Dubcek verlor die Initiative“ Ehmke stellte die These auf, der Westen im Allgemeinen und die SPD im Besonderen könnten wenig tun, um Gorbatschow aus der hausgemachten Krise zu helfen - abgesehen von der Herstellung günstiger außenpolitischer Rahmenbedingungen. Mlynars Referat war selbstkritisch angelegt. Als zentrales Verdienst des Prager Frühlings stellte er den Versuch heraus, den gesellschaftlichen Kräften einen rechtsstaatlichen Raum autonomen Handelns zu gewähren und die Partei selbst dem Reformprozeß zu unterwerfen. Obwohl das Einparteiensystem fortbestand, war es so möglich geworden, politische Entscheidungen öffentlich kontrollierbar zu machen. Der größte Fehler war nach Mlynar 1968 das Unvermögen der Partei gewesen, die politische Initiative zu behaupten. Man hätte im Frühjahr den Parteitag einberufen und Wahlen wenigstens auf lokaler Ebene durchführen müssen. Man hätte dem Volk die Wahrheit über die Spannungen mit der Breschnew–Führung sagen und offen um internationale Unterstützung der westlichen linken Parteien wer ben müssen. Die sofortige und vollständige Abschaffung der Zensur erweist sich für Mlynar nachträglich als problematisch. Zwischen den Medien, in denen der Meinungsstreit voll entbrannt war und den noch weitgehend uniformen Institutionen des Staats und der Gesellschaft hätte sich eine zu große Kluft aufgetan. Ambarzumow bemerkte daraufhin lapidar, daß er „mit Zdeneks selbstkritischen Analysen vollständig übereinstimmt“. Die Haltung zum Prager Frühling sei in der Sowjetunion im Fluß. Breschnews Formel von der bedingten Souveränität der sozialistischen Länder werde jetzt offen kritisiert, damit sei auch die ideologische Begründung für die Intervention hinfällig. Wenn jetzt die Unabhängigkeit jedes sozialistischen Landes respektiert werde, könne man aber nicht gleichzeitig verlangen, daß die KPdSU Druck auf die osteuropäischen Parteien in Richtung der Perestroika ausüben solle. Das habe er auch den Soziologen in Prag geantwortet, die die Sowjets gedrängt hätten, gegen die Konservativen in der CSSR Front zu machen. Bleibe das Problem der sowjetischen Besatzung, der Panzer. „Es fragt sich dann aber doch, wen unterstützen die Panzer, die Konservativen oder die Progressiven?“ Hier widersprach Mlynar. Die Frage der Besetzung sei für ihn nicht das dringendste Problem, aber die Panzer seien das Symbol der Unterdrückung und der Lüge. Unter ihrem Schutz hätte sich schließlich die Gruppe etabliert, die die Reform zerstört, das Land zur Stagnation verurteilt und Hunderttausende ins Unglück gestürzt habe. Eine societe civile in der SU? Im Unterschied zu Mlynar sah Ambarzumow mit der neuen Führung der KPTsch „ein Licht am Ende des Tunnels“. Wichtig sei, daß die Bewertung des Prager Frühlings in der Sowjetunion jetzt in einem Meinungskampf erfolge, obwohl dieser noch nicht ganz offen geführt werde. Dieser Meinungsstreit sei Bestandteil der umfassenden Auseinandersetzung mit den Konservativen. Die gesamte Stalin– und Breschnew–Zeit stünde jetzt auf dem Prüfstand. Heute würde gefragt, ob während ganzer Perioden in der UdSSR überhaupt Sozialismus geherrscht habe. „Was sich jetzt in der Sowjetunion herausbildet“, sagte Ambarzumow, „sind die Anfänge einer societe civile, wie es sie vor der Revolution kaum gegeben, wie sie sich in der NEP–Periode in Ansätzen gebildet und wie sie dann von Stalin ausgerottet worden ist.“ Zu dieser societe civile gehöre eine unabhängige Öffentlichkeit selbständiger gesellschaftlicher Gruppen und der Rechtsstaat, wie ihn Gorbatschow eben wieder gefordert habe. „Die unabhängigen Gruppen“, schloß Ambarzumow, „sind die Kinder der Perestroika.“ In der Plenardiskussion wurde kritisiert, daß bei der Bewertung des Prager Frühlings zu wenig von den Künstlern und den Intellektuellen, von den nicht parteigebundenen Initiativen, überhaupt von den unpolitischen Leuten die Rede gewesen sei, was sich natürlich auch auf die Einschätzung der gegenwärtigen Situation auswirken müsse (tatsächlich hatte es Mlynar vermieden, auch nur mit einem Wort auf die Charta 77 zu sprechen zu kommen). Pelikan, T. Kosta und Kopelew solidarisierten sich mit dem Reformkurs in der Sowjetunion, forderten aber die SPD auf, demokratische Prozesse überall in Osteuropa zu unterstützen. Insbesondere Kopelew, der sich von der Offenheit und Lernfähigkeit Gorbatschows beeindruckt zeigte, sprach davon, die SPD „soll in freimütiger und kameradschaftlicher Diskussion Ratschläge erteilen und freundschaflichen Druck ausüben“. Ehmke, der auf diese und andere Beiträge replizierte, war ziemlich gereizter Stimmung. Alles, was getan werden könne, werde getan, wenngleich nicht immer öffentlich. Insgesamt gab es eine nützliche Diskussion, die bewies, daß das letzte Wort über die Anstrengungen Dubceks und seiner Freunde noch längst nicht gesprochen ist. Allerdings: „Man kann niemals zweimal in den selben Fluß steigen.“ (Ambarzumow, Herklit zitierend)
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