Zweikampf im Turnen für Olympia: Problematische Einschätzung
Elisabeth Seitz und Helen Kevric konkurrieren um einen deutschen Olympiaplatz. Die Zahlen sprechen für Erstere, der Verband favorisiert Letztere.
„Mit einer 14,75 braucht es wenig Worte, um zu verstehen, dass ich relativ nah an einer Medaille sein könnte international“, sagte Elisabeth Seitz nach einer großartigen Barrenübung im Gerätefinale am vergangenen Sonntag, die ihr den 26. nationalen Titel eingebracht hatte. Aber um Titel ging es nur am Rande bei der deutschen Meisterschaft, im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Vergabe des letzten Startplatzes für die Olympischen Spiele in Paris.
Die aktuell aussichtsreichsten Aspirantinnen auf diesen Platz könnten unterschiedlicher kaum sein: zum einen ebenjene Elisabeth Seitz, 30 Jahre alt, nach einem Achillessehnenriss vor neun Monaten körperlich und mental sichtlich in bester Verfassung. Seitz ist seit fast 15 Jahren meist die beste und stabilste deutsche Turnerin mit über einem Dutzend Starts bei Welt- und Europameisterschaften. Bei drei Teilnahmen an Olympischen Spielen stand sie jeweils im Finale am Barren und wurde dabei Sechste, Vierte und zuletzt in Tokio Fünfte. Zum anderen Helen Kevric, gerade 16 Jahre alt und damit erst seit Januar startberechtigt.
In der Juniorenklasse war sie in Europa unschlagbar. Seit Sommer 2022 hatte sie immer wieder Probleme am linken Fuß. Offiziell bestätigt ist, dass es im vergangenen November einen arthroskopischen Eingriff gab, inoffiziell ist mal von wiederkehrenden Entzündungen, mal von einem Bruch die Rede. Wegen der Fußprobleme beschränkte sich ihr internationales Debüt im April auf einen Einsatz am Barren, an dem sie EM-Vierte wurde.
Im Februar veröffentlichte der Verband Kriterien, anhand derer die Wahl getroffen werden soll. Aus Ergebnissen der WM 2023 wurden Punktzahlen errechnet, die für Paris ein Medaillenpotenzial und – für den Fall, dass diese Punktzahl von niemandem erreicht wird –, ein Finalpotenzial, also eine Platzierung unter den acht Besten, prognostizieren sollen. Festgelegt wurde auch, dass nur die Ergebnisse von zwei Wettkämpfen überhaupt berücksichtigt werden.
Kevric „in der Pole Position“
Deswegen ist zwar Seitz’ eingangs zitierter Satz keineswegs falsch, aber die Zahl, über die diskutiert werden muss, ist eine andere: 14,6. So viel erhielt Seitz für eine sehr gelungene Übung im Rahmen des Mehrkampfwettbewerbs, der als erste Olympiaqualifikation galt. Helen Kevric erturnte darin im Mehrkampf eine 55,5 – mit der sie verdient den Titel der Mehrkampfmeisterin gewann – und am Barren eine 14,35. Alle drei Zahlen weisen laut „Prognosetabelle“ ein Finalpotenzial für Paris aus. Bundestrainer Gerben Wiersma erklärte nach dem Wettkampf, Helen liege „in der Pole Position“ was den Olympiastartplatz betrifft, da ihre Mehrkampfwertung laut einer zweiten Tabelle den vierten Rang bedeute, Seitz’ Barrenwertung den fünften Rang.
Eine Argumentation, die von den Kriterien gedeckt ist und trotzdem problematisch. Zum Ersten, weil Kevrics 55,5 im Vergleich zu anderen international in diesem Jahr erturnten Zahlen sehr hoch erscheint. Kampfrichter und Experten, nationale und internationale, lobten allesamt Kevrics guten Mehrkampf, erklärten aber auch recht einhellig, dass er eher 54 Punkte wert sei. Turnen ist halt nicht Leichtathletik, wo man um gemessene Zentimeter oder Sekunden nicht streiten kann. Hier gibt es immer Spielraum.
Wiersma bekräftigte auf Nachfrage, die Wertungen seien „wirklich fair und okay“ und verwies auf die zusätzlich eingeladene internationale Kampfrichterin. Hierbei handelte es sich um Johanna Gratt aus dem befreundeten österreichischen Verband. Zum Zweiten, weil hier nun mit Platzierungen – der WM 2023 – und nicht mit Punktzahlen argumentiert wird. Seitz’ relevante Punktzahl ist laut Tabelle nur 0,166 von einer potenziellen Medaille entfernt, Kevrics Punktzahl allerdings 0,832. Zum Dritten, weil es bei Kevric um den Mehrkampf geht: Hier stehen nicht acht, sondern 24 Turnerinnen im olympischen Finale. Unter anderem müsste sie dort gegen Simone Biles um eine Medaille konkurrieren. Das ist bei allem theoretischen Potenzial von Kevric aktuell utopisch. Wiersma dazu: „Eine Top-acht-Platzierung ist möglich.“
Was will man? Falls der Deutsche Olympische Sportbund, der letztlich über die Nominierung entscheidet, die größtmögliche Chance auf eine olympische Medaille wahren will, dann sprechen diese Zahlen klar für Elisabeth Seitz. Auch deshalb, weil ein Argument in den DTB-Kriterien gar nicht vorkommt: Erfahrung, Wettkampfstärke und vor allem internationaler Bekanntheitsgrad, der – darum wissen alle Beteiligten, sprechen aber nicht darüber – sich ebenfalls in den Punktzahlen spiegelt. Der zweite Qualifikationswettkampf findet am 22. Juni statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands