Zweifelhafter Wahlaufruf: Türkische Nationalisten werben für Vielfalt
Mit einem Aufruf zur Bundestagswahl machen neun nationalistisch-religiöse Verbände auf sich aufmerksam. Experten warnen vor wachsendem Einfluss dieser Gruppen.
Das Foto zeigt einen jungen Mann, der lässig an einer weißen Wand lehnt. Die Arme verschränkt blickt er lächelnd in die Kamera, neben ihm ein Aufruf in großen schwarzen Lettern: „Ich geh wählen, was ist mit Dir?“ Darunter die Aufforderung wählen zu gehen auf Türkisch: „Haydi seçime“. Unbedenkliche Wahlwerbung, dieser Eindruck entsteht beim Betrachten des Bilds. Oder vielmehr: Der Aufruf verschiedener türkischer Verbände suggeriert, dass sich die türkische Community in die deutsche Politik einmischt. Ein Beitrag für die Integration.
Trotzdem hat die taz-Anzeigenabteilung einen erneuten Abdruck des Wahlaufrufs verhindert. Der Grund: Zu den neun Initiatoren gehört auch die rechtsradikale Vereinigung „Alperen Ocakları“, eine Untergruppierung der türkischen „Partei der großen Einheit“ (BBP). Die Gruppe leugnet bis heute den Genozid an den Armeniern und verhindert eine Lösung der Kurdenfrage in der Türkei. „Die Alperen-Bewegung hat mit Migrationspolitik nichts zu tun“, sagt Riza Baran, der bis 1999 für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus saß.
An dem Wahlaufruf beteiligen sich insgesamt neun Vereinigungen, alle aus dem national-religiösen Spektrum. Im unteren Bildrand der Annonce sind die Beteiligten aufgelistet, darunter auch die „Milli Görüs“-Bewegung. Gemeinsam haben sie einen Zehn-Punkte-Plan ausgearbeitet, der auf ihrer Webpräsenz www.meinewahl.net zu lesen ist. Die Gruppe würde sich wünschen, bilinguale Erziehung im deutschen Bildungssystem zu verankern.
„Diese Forderung ist ambivalent. In der Türkei widersetzen sich diese Vereinigungen massiv der Anerkennung von ethnischen Minderheiten und deren Sprachen“, sagt Kemal Karabulut, Gründungsvorsitzender der Berliner Dersim-Kulturgemeinde. Seit 20 Jahren setzt sich sein Verein für die in der Türkei verbotene Zaza-Sprache ein – und stößt dabei auf taube Ohren. „Vereinigungen wie Milli Görüs spalten die Türkei im Namen der Religion.“
Machtkampf um Migrantenverbände
Den Unterzeichnern werden auch in Deutschland spalterische Ambitionen nachgesagt. „Der Wahlaufruf geht deutlich in eine konservative Richtung und ist nicht gerade integrationsförderlich“, sagt Aziz Bozkurt (SPD), Landesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt.
Spekulationen, warum die Gruppen den Aufruf gestartet haben, gehen in unterschiedliche Richtungen. Die Berliner Publizistin Claudia Dantschke ist der Auffassung, dass es sich dabei vor allem um eine machtpolitische Auseinadersetzung innerhalb der verschiedenen Migrantenverbände handelt: „Diese religiös konservativen türkisch-nationalen Verbände arbeiten schon länger unter dem Dach der türkischen Gemeinde Berlin zusammen. Sie wollen als politische Interessengruppe von der deutschen Politik ernst genommen werden“, sagt sie.
In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, „Milli Görüs“ sei die Bewegung des Islamisten Necmettin Erbakan. Er war allerdings nur der Gründer einer Vorläuferpartei. Wir bitten um Entschuldigung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?