Zweifel an Ratingagenturen: Bilanzen raten
Firmen wie Solarworld, adidas, SAP und Dürr verzichten auf die teuren Gutachten der umstrittenen Ratingagenturen. Kann das funktionieren?
Ein gnadenloseres Urteil über ein Produkt kann man kaum fällen. "Die Kosten hätten sich für uns nicht ausgezahlt", sagt Philipp Koecke, Finanzvorstand der Solarfirma Solarworld. "Ein derartiger Betrag stünde in schlechtem Verhältnis zu den Vorteilen."
Ein wenig zurückhaltender sagt es Boris Jendruschewitz, Direktor für Konzernfinanzen beim Handelshaus Otto: "Das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist nicht ausgewogen."
Die Finanzchefs der beiden Unternehmen äußern sich zu einem ganz speziellen Produkt: den Gutachten von Ratingagenturen. Diese privaten Bewertungsfirmen prüfen, ob Banken, Fonds und Produktionsunternehmen, aber auch Staaten und Gemeinden ihre Schulden an ihre Gläubiger zurückzahlen können. Sind sie nach Meinung der Ratinganalysten dazu in der Lage, bekommen die Schuldner eine gute Note. Steht die Rückzahlung in Frage, gibt es eine schlechte Zensur - wie in der Schule. Dieses Auslesesystem aber wollen jetzt viele Firmen nicht mehr mitmachen. Sie verzichten auf die teuren Ratinggutachten der Agenturen. Dazu gehören Solarworld, Otto und andere Unternehmen.
Standard & Poors, Moodys und Fitch heißen die drei weltbeherrschenden, privaten Ratingfirmen. Die ersten beiden sitzen in den USA, Fitch residiert in London. Die Abwanderung ihrer Firmenkunden kommt für sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Ihr Ruf ist ohnehin beschädigt, wenn nicht ramponiert.
Legendär ist diese Episode: Als die Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 bankrottging, trug sie das Prädikat "A" von Standard & Poors. Das bedeutet: "Die Fähigkeit des Schuldners, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen, ist stark." Als die Investmentbank implodiert war, hatte die Ratingagentur einige Mühe zu erklären, warum dies trotz der guten Bewertung geschehen konnte.
In einem Pilotverfahren hat ein deutscher Privatanleger Standard & Poors inzwischen auf Schadenersatz verklagt, weil er auf das gute Rating vertraute, Anleihen von Lehman kaufte und sein Geld verlor. Kommt er durch, würden zahlreiche ähnliche Verfahren folgen. Weil die Agenturen systematisch Bestnoten für spekulative Immobilienpapiere verliehen, die während der Finanzkrise reihenweise zu wertlosen Schrottanlagen verfielen, sehen ebenso die Regierungen in den Agenturen Hauptschuldige des Desasters. Deswegen schlägt der Internationale Währungsfonds (IWF) bei seiner Jahrestagung am kommenden Wochenende in Washington vor, die Urteile der Agenturen weniger wichtig zu nehmen.
Und jetzt machen auch noch die Firmenkunden Probleme. Der baden-württembergische Anlagenbauer Dürr hat gerade mit einer neuen Firmenanleihe 150 Millionen Euro von Privatinvestoren eingeworben - ohne Rating. Auch der Sportartikelhersteller adidas kommt ohne Wertgutachten aus, ebenso wie der Softwarekonzern SAP.
Zahlen der Agentur Standard & Poors zufolge haben in diesem Jahr bis Ende August europaweit bereits 21 Unternehmen Anleihen ohne Rating herausgegeben. Im ganzen Jahr 2009 waren es 26. Allerdings: 89 Prozent der Emissionen erfolgen mit Rating. Trotzdem sagt Martin Faust, Professor für Bankbetriebslehre in Frankfurt am Main: "Es ist ein Trend, dass mehr Unternehmen als früher auf ein Rating durch Agenturen verzichten." Welches sind die Gründe? Zuerst verweisen die Unternehmen regelmäßig auf die hohen Kosten der Ratings. So hätte Solarworld "deutlich über 150.000 Euro zahlen müssen", sagt Finanzvorstand Koecke, um ein Bewertungsgutachten für die gesamte Firma zu erhalten. Würde der Solarzellenhersteller auch noch einzelne Anleihen bewerten lassen, mit denen er beispielsweise im Januar 400 Millionen Euro von Investoren einsammelte, kämen weitere Ausgaben hinzu.
Dann spielt eine Rolle, dass die Firmen gegenwärtig keine Probleme haben, Geld am Kapitalmarkt zu bekommen. Private und institutionelle Anleger zeichnen gern Firmenanleihen. Denn nicht mal Staatspapiere gelten in Zeiten öffentlicher Verschuldung noch als sicher. Wenn die Firma einen guten Ruf hat, sind Ratings als Beweis der Solidität gar nicht mehr notwendig.
Ein weiterer Beweggrund für die neue Abstinenz der Unternehmen liegt im schlechteren Ruf der Ratingagenturen. "Es gibt Zweifel an der Qualität der Bewertungen", so Günter Dielmann, Sprecher des Anlagenbauers Dürr. Und Kemal Bagci von der Royal Bank of Scotland in Frankfurt sieht das ähnlich: "Die Ratings haben in der Vergangenheit mitunter Verlässlichkeit vermissen lassen. Professionelle Investoren verlassen sich deshalb verstärkt auf ihre internen Ratingmodelle."
Die Firma Dürr freilich hatte noch ein spezielles Motiv. Ihr gefiel das potenzielle Anleiherating auch deshalb nicht, weil es zu schlecht war. "CCC" hätte die Bewertung der Agenturen gelautet, "der Schuldner ist gefährdet". Für solch ein Urteil möchte man nicht auch noch Geld bezahlen. Dürr sagt, die schlechte Einstufung sei ein Reflex auf die vergangene Krise, der Firma gehe es schon viel besser.
Und dann gibt es noch Fälle wie die Westdeutsche Landesbank. Die ließ sich früher von drei Agenturen betreuen. Mittlerweile hängt die WestLB aber am Tropf des staatlichen Bankenrettungsfonds und muss große Teile ihrer Geschäfte abwickeln. Es heißt sparen. Standard & Poors wurde gekündigt.
Denn noch liefern diese Agenturen nach wie vor ein gefragtes Produkt. Investoren wollen wissen, wem sie ihr Geld leihen. Da sind Informationen über die Bonität der Schuldner sehr hilfreich. RBS-Mitarbeiter Bagci sagt: "Ratings sind wichtig für die Transparenz." Und auch Bankprofessor Faust meint: "Ratings haben nach wie vor eine Berechtigung, weil sie den Unternehmen erleichtern, Investoren zu gewinnen."
Hinzu kommt: Selbst die staatliche Bankenaufsicht drängt darauf, dass Banken Ratings der Unternehmen verlangen, denen sie Geld leihen. Leisten die Institute dem nicht Folge, müssen sie zur Sicherheit mehr Kapital in Reserve halten - und das reduziert ihren Gewinn. Solange das so ist, haben die Agenturen einen garantierten Markt.
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