Zwei Jahre Bürgerkrieg in Tigray: „Wir vernichten euch“
Ein Abkommen weckt die Hoffnung auf Frieden im blutigen Konflikt um Äthiopiens Region Tigray. Hunderttausende Menschen sind bereits getötet worden.
Solche Aussagen füllen den im September veröffentlichten „vorläufigen“ Untersuchungsbericht der Äthiopien-Expertenkommission des UN-Menschenrechtsrates. Der Bericht benennt die „besondere Gewalt und Brutalität“ gegen tigrayische Frauen und Mädchen und auch eine Politik der äthiopischen Regierung, „die Bevölkerung Tigrays systematisch Zugang zu überlebensnotwendigen Dingen und Diensten zu versagen, darunter Gesundheitsversorgung, Obdach, Wasser, sanitäre Einrichtungen, Bildung und Nahrung“.
Manche Beobachter werten dies als Völkermord. Die US-Regierung schätzt die Zahl der Toten in zwei Jahren Tigray-Krieg auf 500.000. Unabhängigen Zugang zu den Kriegsgebieten gibt es nicht. Auch den Tigray-Kämpfern werfen die UN-Experten Gräueltaten vor. Der Krieg ist ein Kreislauf aus Gewalt und Rache.
Besonders zynisch ist, dass die Kriegsführer jahrzehntelang gemeinsam in Äthiopiens Regierung saßen. Die TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront) ergriff 1991 als Guerilla die Macht in Äthiopien und führte an der Spitze der multiethnischen Regierungskoalition EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker) ein autoritäres Regime.
Angesichts zunehmender Proteste machte die EPRDF 2018 den Politiker Abiy Ahmed aus der größten äthiopischen Volksgruppe der Oromo zum Ministerpräsidenten. Abiy schloss Frieden mit Eritrea, gegen das die TPLF-Regierung Krieg geführt hatte, und startete eine politische Öffnung – aber zugleich setzte er ein auf seine Person zugeschnittenes Machtsystem an die Stelle der föderalen EPRDF, die er auflöste und durch seine eigene Wohlstandspartei ersetzte. Die TPLF machte dabei nicht mit. Sie behielt in Tigray die Macht, und als ihre Armee Anfang November 2020 auch Tigrays Militärinfrastruktur übernahm, kam es zum Krieg.
Die Rebellen rückten fast bis nach Addis Abeba vor
Erst eroberte Äthiopiens Armee Tigray, unterstützt von Eritrea sowie Amhara-Milizen. Dann verjagte die TPLF im Mai 2021 Äthiopiens Armee und rückte im Bündnis mit anderen Rebellen bis November 2021 fast bis nach Addis Abeba vor. Dann wendete sich das Blatt, die TPLF zog sich nach Tigray zurück und im März 2022 begann eine „humanitäre Feuerpause“. Genau fünf Monate später, im August 2022, gingen die Kämpfe wieder los, brutaler als zuvor. Auch während der Friedensgespräche in Südafrika gab es keine Feuerpause.
„Seit dem 9. Oktober fallen jeden Tag Granaten um Adigrat“, berichtete vor wenigen Tagen eine lokale Quelle aus dem humanitären Bereich in der Stadt. „Viele Menschen sind getötet worden, auch Kinder und Mütter. Wir haben alles geschlossen und den Mitarbeitern gesagt, sie sollen hingehen, wohin sie wollen, um ihr Leben zu retten.“
Tötet der Krieg nicht, tut es der Hunger
Der Bericht fährt fort: „Im Westen Tigrays wurden viele Städte – Adi Daero, Adi Hageray, Adinebried, Sheraro – zu Asche gemacht. Es gibt Schätzungen von bis zu 11.200 getöteten Zivilisten dort. Größere Städte wie Shire, Axum und Adwa sind unter eritreischer und äthiopischer Kontrolle und viele junge Leute wurden erschossen. In Shire wurden über 300 junge Menschen erschossen, in Adwa vergangene Woche 47. Die meisten jungen Leute schließen sich dem Krieg an, aus Angst, getötet zu werden.“
Tötet der Krieg nicht, tut es der Hunger. Vor Kriegsbeginn waren zehn Prozent der sechs Millionen Einwohner Tigrays auf humanitäre Hilfe zum Überleben angewiesen. Heute sind es 90 Prozent. Seit Beginn der jüngsten Kriegsrunde am 24. August haben gar keine Hilfsgüter mehr Tigray erreicht. Im jüngsten UN-Lagebericht vom 1. November ist die Rede von 25.000 schwer unterernährten Kindern in Tigray, für die es keine Versorgung mehr gebe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Antisemitismus in Berlin
Höchststand gemessen
Unterbringung und Versorgung
Geflüchtetenaufnahme belastet Kommunen weiterhin deutlich